Berlin: „Salome“, Richard Strauss

The winner is: Komische Oper Berlin

Wer als Berliner Opernfreund keine Lust mehr auf Neuenfels‘ Riesenphallus und ca. 42 abgeschlagene Gipsköpfe mit den Zügen des Jochanaan und auch nicht auf Guths Inszenierung mit vielen Salomes aller Altersstufen (aber sämtlich missbraucht) hat, wer also die Salome sowohl der Staatsoper wie der Deutschen Oper meiden muss, der kann sich jetzt in der Komischen Oper mit der Strauss-Oper in der Regie von Evgeny Titov auseinandersetzen. Der Regisseur, der an der Komischen Oper bereits mit Enescus Oedipe einen großen Erfolg feiern konnte, sieht in Salome weder eine Femme fatale noch eine Lolita, sondern eine Suchende, ein Prinzip, eine „Ungeformte“, die in der Liebe zu Jochanaan die „Offenbarung des eigenen Ich“ zu finden hofft. Nicht im Erleben einer harmonischen Liebesbeziehung findet man nach Meinung von Titov zum „wirklichen Ich“. So wie Medea seiner Meinung nach erst nach Jasons Untreue das Geheimnis der Liebe erfährt, geschieht das für Salome mit der Zurückweisung durch Jochanaan. Ihr „das Geheimnis der Liebe ist größer als das des Todes“ lehnt er zwar einerseits ab, hält das Geheimnis des Todes für das größte, das jedoch von dem der Liebe noch übertroffen wird. Sprachwissenschaftler, die bisher nur von Positiv, Komparativ und Superlativ als Steigerungsformen ausgingen, müssen also zur Kenntnis nehmen, dass es noch einen Komparativ vom Superlativ gibt. Die Regie geht davon aus, dass Salome durch ihren Tod vor einer Enttäuschung bewahrt wird. Also verschafft das Küssen der kalten Lippen des Jochanaan offensichtlich nicht die höchste und letzte Erfüllung und Reifung, die nur der Schmerz der Verweigerung gewähren kann.


Herodias (Karolina Gumos), Narraboth (Agustín Gómez), ein Page der Herodias (Susan Zarrabi), zwei Soldaten (Philipp Meierhöfer, Andrew Harris)
© Jan Windszus

Nach diesen Vorab-Verlautbarungen war man natürlich gespannt auf die szenische und musikalische Umsetzung. Was bedeuten diese Ideen des Regisseurs konkret für die Bühne?

Nun, die Inszenierung wartet mit einigen Überraschungen auf, die aus keinem der Vorab-Interviews mit dem Regisseur zu entnehmen waren. Salomes Kopf steckt vom ersten bis zum letzten Takt der Oper in einer weißern Ganzkopfmaske, deren einziger Vorteil zu sein scheint, dass zum Tanz der sieben Schleier nicht eine, nicht sieben, nein unzählige bis zum Verwechseln ähnliche Salomes, auch halbwüchsige darunter, Herodes den Kopf verwirren und in den Schritt greifen können. Dass Salome damit jede Individualität verweigert wird, soll vielleicht das noch Unfertige der Persönlichkeit ausdrücken. Sexuell sehr aktiv war bereits vor dem Tanz der sieben Schleier das multisexuell aufgestellte Gefolge des Herrschers. Diesem genügen offensichtlich die durch Aufpolsterungen zum monströsen Voll- bzw. Überweib gewordenen Rundungen der Gattin nicht mehr. Während optisch also die Sünde die Bühne dominierte, war Salome selbst in züchtiges Silber gehüllt, mit Glockenrock und langen Ärmeln (Kostüme: Esther Bialas). Insgesamt charakterisierten die Kostüme exakt ihre Träger, sei es das Goldlamé für Herodias, das Giftgrün für Herodes oder das Schwarz für die Juden, während die beiden Nazarener individualistischer gezeichnet sind. Eine ganz neue Lesart für das Stück ist die Hinrichtung Jochanaans nicht durch das Abschlagen des Hauptes. Vielmehr wird Salome der gesamte, aufklappbare Leib des Täufers für ihre Gelüste zur Verfügung gestellt, ehe dieser mitsamt dem Mond, der zeitweise auch als Lampe fungierte, entschwebt und „man töte dieses Weib“ ertönen kann.

Herodes (Matthias Wohlbrecht), Herodias (Karolina Gumos), Salome (Nicole Chevalier), Komparsen / © Jan Windszus

Die mit allen vier Wänden, Decke und Fußboden wie aus Metall erscheinende Bühne mit der Zisterne für das Verlies des Propheten wirkt beängstigend eng, wird noch unheimlicher, wenn sich Hunderte Fenster in den Wänden wie zu einer Peep-Show auftun und wieder verschwinden (Bühne: Rufus Didwiszus). Durchweg wird eine äußerst beklemmende Atmosphäre geschaffen, schwingt Obszönität ihr Zepter, strahlt der kalkweiße Leib des Jochanaan eher Kälte als Keuschheit aus, auch wenn er sich (segnend?) über den Körper des toten Narraboth neigt, er allerdings auch Herodias einiges an eher weltlichem Interesse abringt. Bis zuletzt scheint man an der Optik gefeilt zu haben, denn auf den Pressefotos hat der bei der Premiere glatzköpfige Jochanaan noch viel Haar.

Fast durchweg rollendeckend und hauptstadtwürdig sind die Rollen besetzt. Wie Nicole Chevalier es schafft, unter der Maske so flirrend, so schillernd, ja, auch manchmal schrill die Rolle der Salome zu gestalten, wo ihr doch das Gesicht als Ausdrucksträger, das freie Atmen nicht zur Verfügung stehen, ist ein wahres Opernwunder und des Bewunderns wert. Strauss hätte sich keine bessere Salome denken können. Vollmundig und akustisch der üppigen Optik entsprechend, ist Karolina Gumos eine vorzügliche Herodias. Unzählige Schattierungen der geifernden sexuellen Gier, der Altherrenlüsternheit und hilflosen Herrscherattitüde kann Matthias Wohlbrecht der Rolle des Herodes abgewinnen. Machtvoll dröhnend gibt Günther Papendell einen sendungsbewussten, aber wirklichkeitsfremden Propheten, der schon nicht mehr von dieser Welt ist. In der Verheißung der Erlösung durch Jesus allerdings gewinnt die Stimme an Wärme und Individualität. Mehr vokalen Glanz hätte man sich vom Narraboth Agustin Goméz‘ gewünscht. Lyrisch mitfühlend verströmt sich der Page von Susan Zarrabi. Auch Junoh Lee singt den Zweiten Nazarener mit lyrischer Emphase und sorgt für einen akustischen Höhepunkt. Sein Kollege und die fünf Juden stehen ihm an engagiertem Einsatz in nichts nach.

Salome (Nicole Chevalier) / © Jan Windszus

Aus dem tief versenkten Graben lässt Generalmusikdirektor James Gaffigan es an nichtsfehlen, sei es strahlender Orchesterglanz, gellende Dissonanz, die grandiose Gewalt eines Strauss-Orchesters wie die allerfeinsten Regungen in den Seelen der Protagonisten. Er wurde zu Recht besonders gefeiert, aber auch für alle anderen gab es nur begeisterten Beifall und – oh Wunder! –auch einmal wieder aus dem Publikum zugeworfene Blumen, rote Rosen!

Man macht sich, auch beim Schreiben dieser Kritik, immer wieder Gedanken darüber, warum Salome nicht einmal beim Kuss, den es nicht gibt, ihr Gesicht zeigen kann, die weiße Maske nur vom Blut des Jochanaan rot gefärbt ist. Man hätte sich eine Art Erweckung und damit Individualisierung denken können. Die sollte aber bis zuletzt nicht erfolgen.

Sollten einmal alle drei Salomes auf allen drei Berliner Opernbühnen parallel zu sehen sein, ich würde in die der Komischen Oper gehen.

Ingrid Wanja, 22. November 2025


Salome
Richard Strauss

Komische Oper Berlin

Premiere am 22.November 2025

Regie: Evgeny Titov
Musikalische Leitung James Gaffigan
Orchester der Komischen Oper