Opherdike: „Kammerkonzert im Museum“

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Kein Ort – Nirgends? Nein. Das schöne, im Kern aus dem Mittelalter stammende Rittergut Haus Opherdicke mit seinem Park für Skulpturen und dem Spiegelsaal für Kammermusik auf der Höhe des Ardeygebirges bietet einen schönen Blick über die Ruhr ins Sauerland. Aber das Kammerkonzert dort weitet den Blick. Die Instrumentalistinnen aus der Neuen Philharmonie Westfalen sind mit ihrem Programm auf der der ganzen Welt zu Hause.

Eröffnet wurde der Abend mit dem Atom Hearts Club Quartett op. 70 von Takashi Yoshimatsu, welches nach aufregenden Crescendo in eine Serie von kurzen, musikalischen Episoden mündet.  Gelegentlich lyrisch, oft flott und munter unisono kommt die Musik daher. Im langsamen 2. Satz erheben sich solistisch melancholisch Melodien im langsamen Dreiertakt. Nahezu ohne Pause enwickelt sich das Scherzo des letzten Satzes mit verschrobenem, verschobenem Rhythmus. Da werden modern Rock und Jazz in Erinnerung an Pink Floyds Atom Heart Mother sehr amüsant zu moderner Klassik zusammengerührt.

Metro Chabacano von Javier Álvarez ist nicht nur der Name einer berühmten Metrostation in Mexico City, sondern auch ein Streichquartettsatz des mexikanischen Komponisten Alvarez, der damit nicht den speziellen U-Bahn Sound sucht, sondern „kurze imaginäre, zyklische Reisen durch flüchtige Stadtlandschaften hört“, das schreibt er jedenfalls darüber. Über fortlaufender Streicherbewegung kommt es zu kurzen, fragmentarischen Soli für jeden. Komplizierte, vertrackte Rhythmen und Akzente führen zu einem belebenden, ungewohnten Hörerlebnis.

 Sayaka Nakajima (Violine), geb 1986 in Tokyo, erzählte danach über sich -wie sie nach Recklinghausen ins Orchester gekommen ist, und über ihren Landsmann und seine Musik, die in ihrer Mischung (s.o). die gesamte Musik spiegle. Warum auf dem Original-Cover des ursprünglichen Albums eine Kuh auf der Weide abgebildet ist, erläuterte sie nicht. Mariana Hernández González berichtete über sich und den mexikanischen, kürzlich verstorbenen Komponisten Álvarez, zitierte, was er zu Metro Chabacana geschrieben hatte, und verwies auf den Stellenwert lateinamerikanischer Musik und Tänze in seinen Kompositionen. Sophia Hilger, geboren in Wuppertal, sprach sodann über Felix Mendelssohn Bartholdy, seine Streichquartette op. 81 und seine Besuche in Wuppertal zurzeit einer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte in der Mitte des 19. Jahrhunderts dort.

Das Cappriccio in e-Moll op 81/3 gehört zu einzelnen Quartettsätzen, die erst posthum publiziert wurden. Es handelt entstand 1843 für den Kammermusikliebhaber Louis Baron von Tremont, der Ludwig van Beethoven nach Paris eingeladen hatte. Im Andante des ersten Satzes wogten über dem basalen, stellenweise artig innehaltenden, tiefen Cello sehr klangvoll sinfonisch die höheren Streicher bzw. sangen ein Lied ohne Worte. Nach zu Herzen gehendem Ritardando mit offenem Ausgang startete ernst, schnell und virtuos die große Fuge des 2. Satzes, eines atemberaubenden Scherzos, bei dessen sehr schnellen, gestochenen scharfen Sechzehntel die Musikerinnen ihre ganze Qualität offenbarten.

Das Streichquartett op. 29 Divorce von Fazil Say beginnt energisch, wild unisono. Starker Rhythmus solistische Einwürfe – mit großer dynamischer Tiefe, dann Flageolett, Pzizzicato, kleine Glissandi, Soli in höchsten Höhen, höchst lebendigen Taktwechseln interpretierte das Quartett dieses aufregende Stück. Im Adagio Flageolett-Glissandi zu geheimnisvollen Ostinato Terzen der Bratsche unter einem Lied der 1. Violine. Er schreibt selbst dazu, dass er Trennung und Scheidung in die Sprache der Musik übertragen wollte. Es sei ein Werk seiner Intuition. Im letzten Satz Presto klingen erregte Musikfetzen wie Argumente, Streitgespräche und Hass. Hoch emotionale Abbrüche werfen offensichtlich unlösbare Fragen auf. Unisono-Motive zerbrechen und zersplittern. Dass der unbequeme Komponist seine Emotionen immer wieder in Musik umgesetzt hat und z.B. die Proteste im Gezi Park zu Istanbul vor Jahren bei ihm zu Kompositionen geworden sind, erläuterte die in Istanbul geborene, armenische Cellistin Karolin Knoll. Sie berichtete, dass er sich auch politisch zur Menschenrechtssituation in der Türkei geäußert und die Verurteilung auf Bewährung in Kauf genommen hat. Das Studium in Düsseldorf hat er mit vierzehn Jahren begonnen und sie erzählte, wie er als Student zu Improvisation angehalten und darüber zur Komposition gekommen war. Später studierte er in Berlin und spielt als Panist heute weltweit in den bedeutendsten Konzertsälen. Mit solch anregenden Moderationen der Musikerinnen und ebenso aufregender Musik ging der erste Teil des Konzertes (musikalische Heimat) zu Ende.

Nach Heitor Villa-Lobos ist nicht nur ein Asteroid benannt, nein, er hat mehr als 1000 Kompositionen, darunter zwölf Opern und siebzehn Streichquartette geschrieben. Seine Etüden für Gitarre gehören zum Wichtigsten, was für Gitarre überhaupt geschrieben worden ist. Sophia Hager sprach über ihn, seine brasilianischen musikalischen Wurzeln, über den Schmelztiegel Brasiliens im 19.Jahrhundert und darüber, dass sein 1. Streichquartett bereits 1915 komponiert, aber nach Verlust 1946 wieder rekonstruiert worden sei. Die sechs Stimmungsbilder reichten von ruhiger Kantilene, ernstem Bratschensolo, federndem Pizzicato bis zu komischem Saltando como um Saci (springend wie eine Springbohne). Mit ungeheurer agogischer Freiheit und dynamischer Tiefe (phasenweise mit Dämpfer) entwickelten sich hier südamerikanisches Temperament in traurige Tropen. Seltenes Hörvergnügen.

Zuletzt gab es dann Debussys einziges Streichquartett von 1893- musikalische Klangfarben mit flächiger Tonsprache und Anregungen aus der ganzen Welt, auch mit Elementen traditioneller indonesischer Gamelan- Musik. Gänsehaut gab es bei dem traurigen Lied der 1. Geige im langsamen Satz, flirrendes Fugato im geschwinden Schlusssatz. Bei der Uraufführung hatte die damals sehr modern anmutende Musik das Publikum geschockt – nicht so bei der Kammermusik in Opherdick. Für den begeisterten Applaus bedankte sich das Ensemble mit einem Lied (Habrban) des armenischen Komponisten Gomitas.

Dieses intensive, anspruchsvolle, ausverkaufte Kammerkonzert im westfälischen Wasserschloss mit den unterhaltsamen, interessanten Moderationen hat gezeigt, dass die Neue Philharmonie Westfalen nicht nur aktuell einen fabelhaften Fliegenden Holländer (Musiktheater im Revier) zu bieten im Stande ist, sondern auch, dass ihre Instrumentalistinnen sich im Ruhrgebiet wohlfühlen und mit persönlichem Engagement das kulturelle Leben Westfalens beleben und bereichern.

Johannes Vesper 19. Oktober 2025


Kammerkonzert
Museum Schloss Opherdicke
17.Oktober 2025

Johannes Javier Álvarez(1956-2023): Metro Chabacano,
Takashi Yoshimatsu(*1953): Atom Hearts Club Quartet op. 70, 
Felix Mendelssohn Bartholdy
: Capriccio e-Moll op. 81/3,
Faziln Say(geb 1970)
: Streichquartett op. 29 „Divorce“
Heitor Villa-Lobos
(1887-1959): Streichquartett Nr. 1
Debussy
: Streichquartett g-Moll op. 10

Instrumentalistinnen aus der Neuen Philharmonie Westfalen