Recklinghausen: „Mahlers 9.“, Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann

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Gustav Mahler Neunte wurde tatsächlich auch schon mal auf historischen Instrumenten der Entstehungszeit der Sinfonie (1909) gespielt. Solch musikalischer Denkmalschutz trägt allerdings kaum zum eigentlichen Hörerlebnis bei. Spannender sind die engen Beziehungen Mahlers, der in Wien und New York reüssierte, zu Nordrhein-Westfalen:  drei seiner Sinfonien wurden hier uraufgeführt – 1902 in Krefeld die Dritte, 1904 in Köln die Fünfte und 1906 in Essen die Sechste (wie in Köln unter der Leitung Gustav Mahlers selbst). Im Festspielhaus der Ruhrfestspiele in Recklinghausen war jetzt unter Rasmus Baumann seine 9. Sinfonie zu hören. Komponiert im Jahre 1910, wurde sie erst nach dem Tode des Komponisten durch Bruno Walter1912 in Wien uraufgeführt. Sie gilt als das letzte große Werk klassisch-romantischer Musik – mit schon unbestimmter Tonalität aber noch ohne vollständige Auflösung derselben.  

Alban Berg, der Mahlers Taktstock als Talisman lebenslang aufbewahrt hat, schrieb über den ersten Satz der Neunten, das sei das « Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat“, – Ausdruck „einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, der Sehnsucht, im Frieden auf ihr zu leben, bevor der Tod kommt.“

Langsam tastet sich die Harfe mit aufsteigender kleiner Terz in das Andante des ersten Satzes vor. Der leise unwirkliche Ruf des gestopften Hornes kommt dazu. Die goldene Tuba spiegelt derweil noch helle Streifen auf Wand und Decke der dunklen Bühne, bevor die ersten Violinen im Zwiegespräch mit leisem Hörnen ihre seufzende Klage-Kantilene beginnen und die brüchige Entwicklung hin zu leidenschaftlichen Entladungen ihren Lauf nimmt. Ob die Sitzordnung des Orchesters (1. Violinen, links, daneben im Halbkreis Celli, Bratschen und 2. Geigen, Kontrabässe hinter den 1. Violinen) die anfänglich etwas gewöhnungsbedürftige Akustik günstig beeinflusste?

Eindrucksvoll, sicher und ausdrucksstark enden die Crescendi am Ende plötzlich im Piano bei insgesamt großen dynamischen Gegensätzen. Da brechen die musikalischen Gedanken ab, die Pauke schlägt, das Kontrafagott kommentiert aus der Tiefe. Nicht immer fanden die ersten Violinen zu beglückender Homogenität in ihrer Gruppe, während die Celli in geheimnisvollem Piano sehr mild und schön sangen. Akustisch unproblematisch gelangen alle kammermusikalischen Abschnitte, in denen nur einige Instrumente miteinander spielen. Ein großer, homogener weicher Orchesterklang ist in diesem Saal schwer zu erzielen.  Immer wieder erklingt das Seufzermotiv, bevor am Ende die Solovioline im pianissimo himmelwärts strebt.

Nach diesem ersten Andante startet der 2. Satz mit nicht zu geschwind aufsteigenden Fagotten, an die sich ein derber Ländler anschließen will. Nach einer kurzen  Cellokantilene erstirbt das Thema, ein Neues beginnt in frischerem Dreier-Takt. Delikate Agogik belebt das Geschehen. Nach Generalpause beginnt alles noch einmal. Die immer wiederkehrende, fallende Oktave und das inzwischen flink aufstrebende Fagott lassen keine Todessehnsucht aufkommen. Nach sauberen Holzbläsern, gekrönt von heller, gestochen scharfer Piccoloflöte, läuft der Satz in resignativem pianissimo aus.

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Mit grellem Blech begann die rondoartige Burleske des 3. Satz, der mit rhythmischer Komplexität, Virtuosität und Polyphonie beeindruckte. Das Orchester war hinreißend, Rasmus Baumanns Dirigat präsent, deutlich, und dabei stets elegant. Die eingefügte Operettenmelodie von Franz Lehár wurde vielleicht nicht von allen – auch nicht vom Rezensenten – erkannt. Das groteske Scherzo endete mit lyrischem Solo von Flöte und Trompete sowie herrlichem pianissimo-Tremolo der zweiten Geigen. Der dunkle Klang der Solobratsche rührte ein weiteres Mal die Seele. Den Schluss bildete eine geschwinde Stretta.

Als große, ernste Streicherkantilene beginnt das Adagio des letzten Satzes, welcher thematisch durch das wiederholt auftretende, die Basis langsam umspielende Vierton-Motiv mit anschließendem Oktavsprung bestimmt wird. Bei trauriger und elegischer Stimmung tröstete Immer wieder die klangvolle Solobratsche zusammen mit der Flöte. Die Solovioline kommt über dunklen Kontrabässen dazu. Alle Solisten, auch Holzbläser und Trompete überzeugten an diesem Abend – ebenso wie die Intensität der Streicher. Hochkonzentriert nahm das musikalische Schicksal seinen Lauf. Das Cello konnte wie die Solovioline mit kurzer Kantilene den Ernst nicht mehr vertreiben und das musikalische Leben erstirbt in Des-Moll über einem letzten zögerlichen Viertonmotiv – erschütternd! Eine lange Stille, folgte, die sich erst nach ca. 80 Sekunden in frenetischem Beifall entlud.

Rasmus Baumann bat das Publikum dann um Aufmerksamkeit für den Abschied von Orchester- und Notenwart Johannes Langrock, der über Jahrzehnte hinweg jede Note zuverlässig beschafft und bereitgelegt hat. Außerdem wurden drei Mitglieder der zweiten Geigen in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet: Ilaris Dinu, Christoph Daub und Nicola Borsche, die alle rund 35 Jahren im Orchester gespielt haben. Nicola Borsche saß am ersten Pult wohl geschätzt 10.000 Stunden neben ihrem Pultkollegen. Insgesamt gehen mit diesen dreien der Gruppe mehr als 100 Jahre Orchestererfahrung auf einmal verloren – was das für Klang und Atmosphäre in der Gruppe bedeutet, wird man in der nächsten Spielzeit hören. Mit einem letzten großen Applaus ging dieser denkwürdige Abend zu Ende.

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Immerhin ist aber in Recklinghausen im Übrigen an Streichern kein Mangel. Am 6. Juli 2025 wird man dort mit dem grössten Streichorchester der Welt Beethovens Ode an die Freude aus seiner 9. Sinfonie aufführen. Mehr als 1200 Streicher sind, bisher angemeldet. Man will den vor Jahren in Hongkong aufgestellten Weltrekord brechen. In Recklinghausen ist musikalisch was los!

Johannes Vesper, 26. Juni 2025


Gustav Mahler: 9. Symphonie

Festspielhaus der Ruhrfestspiele, Recklinghausen

24. Juni 2025

Musikalische Leitung: Rasmus Baumann
Neue Philharmonie Westfalen