Dortmund, Konzert: „Die Walküre“, Rotterdamer Philharmoniker unter Yannick Nézet-Séguin

Wagners auch in den Augen des Komponisten wohl musikalisch reizvollsten Teil seiner monumentalen Tetralogie Der Ring des Nibelungen, nämlich seinen Geniestreich Die Walküre, durfte man nun im Dortmunder Konzerthaus  konzertant erleben, nachdem schon Kent Nagano in der Kölner Philharmonie mit einer ebenfalls konzertanten Walküre aufgetrumpft und in Sachen Ring-Interpretation neue Maßstäbe gesetzt hatte. Den Verzicht auf eine Inszenierung des von Wagner in nur drei Jahren komponierten Erfolgsrenners, der bereits zwei Jahre vor dem ersten vollständigen Ring am 26. Juni 1870 gegen den Willen Wagners auf  Druck König Ludwigs von Bayern in München uraufgeführt wurde, konnte man sehr gerne verschmerzen. So blieb den Zuhörerinnen und Zuhören z.B. erspart, Wotan als Chef eines Versuchslabors und Siegmund und Sieglinde als dessen Versuchsobjekte erleben zu müssen, eine Zumutung, der sich der Rezensent in der Aufführung der Ring-Tetralogie in der Regie von Dmitri Tcherniakov an den Ostertagen dieses Jahres an der Berliner Staatsoper ausgesetzt sah.

© Holger Jacoby / Konzerthaus Dortmund

Nach seinem umjubelten Dirigat von Rheingold  im April 2022 an gleicher Stätte triumphierte Yannick Nézet-Séguin vor dem restlos begeisterten Publikum nun also mit dem zweiten Teil von Wagners Ring-Tetralogie, die in vielerlei Hinsicht gegenüber dem Vorspiel mit Rheingold als ein Neuansatz verstanden werden kann. In der Walküre ist das Götterpersonal aus Rheingold deutlich reduziert. Die Walküre lenkt den Blick auf die Menschen, im Mittelpunkt stehen große Gefühle wie Liebe, Mitleid, Treue, Zorn und Hass. Dabei geht es nicht nur um die Liebe der Geschwister Siegmund und Sieglinde, sondern auch um die Liebe zwischen Wotan und Brünnhilde, die von der bedingungslosen Liebe des Geschwisterpaares so beeindruckt ist, dass sie sich mutig dem Willen des Göttervaters widersetzt und damit die Vater-Tochter-Beziehung auf eine harte Probe stellt. Wotan ist nicht mehr wie in Rheingold der groß auftrumpfende Herrscher, sondern eine zutiefst zerrissene Figur. In seinem großen Monolog zu Beginn des 2. Aufzugs rechtfertigt er sein Eintreten für Siegmund, der sich wie auch Sieglinde durch die Geschwisterliebe schuldig gemacht hat, den Wotan aber als den ersehnten freien Helden betrachtet, der ihm zu seinen Zielen verhelfen kann. Der dritte Aufzug  bringt den Vater-Tochter-Konflikt zu einem dramatischen Höhepunkt. Brünnhildes flehentliche Bitte an Wotan, sie mit einem Feuerring vor einem unwürdigen Freier zu schützen, rührt diesen schließlich zutiefst und bändigt seinen anfänglichen Zorn, sodass er nun zugesteht, dass nur ein Held, der freier ist als er selbst und Wotans Speer nicht fürchtet, das Flammenmeer durchschreiten kann.
Auch musikalisch ist die Walküre ein Neuansatz. Zwar wird die Leitmotivik aus Rheingold aufgenommen und noch erweitert, sodass Thomas Mann von dem großangelegten „Beziehungszauber“ sprechen konnte, andererseits ist Wagner zu sehr Opernpraktiker, um nicht dem Operngeschmack des damaligen Publikums seine Reverenz zu erweisen. So gibt es in der Walküre wieder Arien, Duette und große Ensembleszenen, die den Erwartungen und Hörgewohnheiten des Publikums entgegenkommen. Schon die Eingangsszene mit  der beeindruckenden Gewitterszene verrät Wagner als einen Klangmagier, der sein Publikum zu fesseln  vermag.

Siegmund (Stanislas de Barbeyrac) und Sieglinde (Elza van den Heever)
© Holger Jacoby / Konzerthaus Dortmund

Yannick Nézet-Séguin  gelingt es  mit dem großartig aufspielenden Rotterdam Philharmonic Orchestra, dem „Beziehungszauber“ der Musik Richard Wagners in unnachahmlicher Weise Gestalt zu verleihen. Als Ehrendirigent dieses einmaligen Klangkörpers, als Leiter des kanadischen Orchestre Métropolitain, des Philadelphia Orchestra und des Orchesters der Metropolitan Opera in New York hat sich Nezét-Séguin zu einem Publikumsmagnet entwickelt, der seine Zuhörerinnen und Zuhörer allein schon durch seinen gestenreichen, expressiven Dirigierstil begeistert. Keine Kostüme, keine Kulisse – und doch dramatisches, pralles Musiktheater! Die leidenschaftliche, selig-unselige Liebe und ekstatische Begegnung zwischen Siegmund und Sieglinde im ersten Aufzug, Frickas scharfe Anklage und Wotans zunehmende resignative Nachdenklichkeit, Brünnhildes trauriger Ernst in ihrer Totenansage an Siegmund im 2. Aufzug, Brünnhildes Aufbegehren, ihre Verzweiflung, aber auch ihre Liebe zu Wotan, schließlich Wotans Zorn und Schmerz im Abschied von seiner Lieblingswalküre im 3. Aufzug fanden in der wunderbaren Orchesterbegleitung durch Nézet-Séguin ihre mirakulöse Umsetzung. Begleitung ist aber hier eher das falsche Wort. Das Orchester wird in dieser denkwürdigen Aufführung zum eigentlichen Hauptakteur. Wenn überhaupt eine Instrumentalgruppe besondere Erwähnung finden soll, so sind es die Streicher und hier die Celli, deren wunderbarer, samtener Klang selbst den Maestro zu einem Kniefall veranlasste. Es bedarf eigentlich kaum noch der Erwähnung, dass der legendäre „Walkürenritt“ zu Beginn des 3. Aufzugs zu einem  musikalisch und orchestral triumphalen  Feuerwerk geriet, zumal auch die Sängerinnen der acht Walküren mit ungewöhnlicher Stimmpracht aufwarteten. Als dann  schließlich nach Wotans Abschied die letzten Zweiunddreißigstel eines wahrhaft magischen, fast überirdischen Feuerzaubers in der Interpretation Nézet-Séguins verklungen waren, da blieb es im restlos ausverkauften Dortmunder Konzerthaus für eine ganze Weile mucksmäuschenstill. Dies sagte mehr aus  als der dann aufbrandende Jubel über die Wirkung, die dieser einmalige Opernabend beim Publikum erzeugt hatte.

Zu dieser Wirkung trugen natürlich die fulminanten Leistungen der Künstler bei, die in dieser Besetzung bereits an der Metropolitan Opera in New York geglänzt hatten. Will man beckmesserisch  die Sängerleistungen in eine Rangfolge bringen, so stachen ganz besonders Elza van den Heever als großartige Sieglinde und Stanislas de Barbeyrac als strahlender Siegmund hervor. Stimmschönheit, Leuchtkraft, aber auch Verinnerlichung mit herrlichsten Pianotönen und eine herausragende Textverständlichkeit machen den Vortrag der südafrikanischen Sopranistin, die nach etlichen Jahren an der Frankfurter Oper nun an den größten Häusern der Welt gefeiert wird, zu einem ganz besonderen Erlebnis. Der französische Tenor Stanislas de Barbeyrac ist als Siegmund eine Idealbesetzung. Eine wunderbare weiche Mittellage mag noch daran erinnern, dass dieser großartige Künstler einmal als Mozartsänger begonnen hat. Mittlerweile hat die Stimme gerade in der Mittellage an Fülle und Ausdrucksstärke gewonnen. Hinzu kommen strahlende Spitzentöne, die besonders bei den „Wälserufen“ Gänsehaut pur erzeugen.
Karen Cargill als Fricka begeistert nicht nur durch ihren voluminösen Mezzosopran, sondern auch durch ihre schauspielerischen Fähigkeiten und die damit gegebene beeindruckende Bühnenpräsenz. Sie steigert die Auseinandersetzung zwischen Wotan und seiner Gemahlin zu einer flammenden Anklage, die unter die Haut geht. Saloman Howard  verleiht Siegmunds Gegenspieler Hunding mit wuchtigem Bass jene dämonische, furchterregende Düsternis, die diese Figur auszeichnet.

Hunding (Soloman Howard
© Holger Jacoby / Konzerthaus Dortmund

Tamara Wilson beginnt als Brünnhilde im zweiten Aufzug eher verhalten und nimmt sich besonders auch bei der Totenansage an Siegmund noch stark zurück, um dann aber im dritten Aufzug in der Auseinandersetzung mit Wotan mit großer Stimmkraft und brillanten Spitzentönen aufzutrumpfen. Schade nur, dass der häufige Blick in die Partitur den schauspielerischen Möglichkeiten dieser in München, Wien oder New York gefeierten Sängerin bei diesem dramatischen Disput immer wieder Grenzen setzte.
Der irisch-amerikanische Bariton Brian Mulligan verlieh schließlich der Figur des Wotan mit seinem herrlich geführten, eher hellen Bass-Bariton all jene Züge innerlicher Zerrissenheit und Tragik, die besonders im letzten Aufzug im Streitgespräch mit Brünnhilde deutlich werden. Wotans Abschied „Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind“ wurde so in der Interpretation Mulligans zu einem ganz besonders berührenden Höhepunkt dieser insgesamt phantastischen Walküre-Aufführung. 

Das Publikum bedachte  alle Beteiligten mit stürmischem Beifall, der  Orkanstärke annahm, als Nézet-Séguin vor das Orchester trat, um sich bei dem eigentlichen Star dieses langen Nachmittags und Abends, nämlich dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, zu bedanken.

Norbert Pabelick, 2. Mai 2024


Die Walküre
Richard Wagner
Konzerthaus Dortmund

Musikalische Leitung: Yannick Nézet-Séguin 
Rotterdam Philharmonic Orchestra