5. November 2017
Konzertante Aufführung
Inzwischen ist Teodor Currentzis ziemlich bekannt dafür geworden, daß er Angaben der Komponisten in den von ihm dirigierten Werken – bewundert etwa bei Mozart-Aufführungen im Konzerthaus Dortmund – betreffend Rhythmik, Dynamik, Tempo oder Lautstärke gern extrem verdeutlicht sowie daß er Fermaten , Generalpausen und Ritardandi auskostet und einzelne Akkorde bewußt akzentuiert. Da mag es ihn gereizt haben, Puccinis „La Bohème“ auf das Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach Szenen aus Henri Murgers „Vie de Bohème“ als erste Oper aus dem (ganz späten) 19. Jahrhundert einzustudieren. Eher kleinteilige Themen verknüpft Puccini neben den längeren „Hits“ zu einem musikalischen Ganzen. Dies ist auch darin begründet, daß hier musikalisch überhöht übertriebene Tollheiten, grosse Gefühle bei sogenannten „kleinen Leuten“, melancholische und tragische Szenen ziemlich abrupt aufeinander folgen oder sogar gleichzeitig sich ereignen wie zum Schluß des dritten Bildes.
Konzertant führte Currentzis sie am vergangenen Sonntag auf wie üblich mit dem MusicAeterna Chor und Orchester und mit bei uns kaum bekannten Solisten, viele aus seinem Heimat-Opernhaus Perm mitgebracht. Am 10. und 12. November folgen dann szenische Aufführungen im Festspielhaus Baden-Baden – dort angekündigt als Kooperation mit dem
Opernhaus Perm.
Etwas Theater war dann doch im Konzerthaus. Die Herren waren z.B. Bohème-haft gekleidet und deuteten szenische Handlungen an, zum „Zapfenstreich“ gegen Ende des zweiten Bildes marschierte eine grosse Militärkapelle vor der Bühne von rechts nach links, die Stimmen der Zöllner, Strassenkehrer und Marktfrauen zum Beginn des dritten Bildes ertönten hinter der Bühne, auch die Beleuchtung wurde zur Unterstürzung der Handlung eingesetzt.
Einige Sänger, die in Dortmund sangen, treten nicht in Baden-Baden auf, so Davide Giusti als Rodolfo. Schon bei der „gelida mannina“- mit Zwischenapplaus – aber besonders nach der Pause ließ er seinen helltimbrierten Tenor mit grossen Legaro-Bögen ohne falsches Vibrato bis zu den Spitzentönen hin strahlen, verfügte aber auch über fast nur gehauchte leise bei p-Orchesterbegleitung trotzdem immer hörbare Töne.
In Baden-Baden dabei als Mimi ist Zarina Abaeva . Ihre Leistung war in alle Facetten bewundernswert. Schon in ihrer ersten Arie gelangen ihr grosser expressiver Stimmausdruck, dann mit unterschiedlicher Stimmfärbung die schnelleren Parlando-Stellen. Ganz anrührend war dann die Wiederholung derselben Stelle im letzten Bild wie ein verklärtes Echo oder danach die auf einem Ton gesungene Klage über ihre niemals wieder warmen Hände. Für sie gab es zu Recht zweimal Zwischenapplaus. Auch die tiefen Töne ihrer Partie bereiteten keine Schwierigkeiten.
Nur in Dortmund zu bewundern war Nadezhda Pavlova in der dankbaren Rolle der Musetta. Keck und treffsicher bis zum hohen h gelang ihr mit grosser Stimme der Walzer im zweiten Bild – wenn sie auch für den Spaziergang durchs weihnachtliche Paris etwas spärlich bekleidet war. Übermut zeigte sie stimmlich in den Duetten mit Alcindoro und Marcello.. Ganz zurückgenommen hingegen wirklich fast nur murmelnd (mormorato) sang sie wie gefordert fast nur auf demselben Ton das kurze Gebet an die Jungfrau kurz vor Mimis Tod.
Ihren Geliebten und Streitpartner Marcello sang mit ganz grosser Stimme stets tongenau Konstantin Suchkov. So wurde das Quartett der vier zum Schluß des dritten Bildes zu einem Höhepunkt des Abends.
Wie er sind alle anderen Solisten auch in Baden-Baden dabei. Edwin Crossley-Mercer gefiel stimmlich und übertrieben komisch spielend bei der Erzählung vom sterbenden Papagei im ersten Bild. Nahuel di Pierro bedauerte ergreifend bis zum tiefen Schlußton die Trennung von seinem alten Mantel. Damit er als solcher zu erkennen war, trug Sergey Vlasov als Spielzeugverkäufer Parpignol drei rote Luftballons mit sich.
Gary Agadzhanyan als genasführter Vermieter Benoît und später als spleeniger Staatsrat Alcindoro hatte Schwierigkeiten, sich gegen das Orchester stimmlich durchzusetzen.
Dies war allerdings abgesehen von den beiden Damen und dem Darsteller des Marcello für alle schwierig, weil auf der Bühne das MusicAeterna Orchester in ganz grosser Besetzung spielte. Wie dessen Mitglieder unter Leitung von Currentzis Puccini interpretieren würden, wurde mit Spannung erwartet. Zunächst schreibt Puccini betreffend Tempo Metronomangaben vor, macht aber durch zahlreiche Zwischenangaben Flexibilität möglich.. Das nutzte der Dirigent wie erwartet aus, Die fanfarenartigen Anfänge des ersten und zweiten Bildes ließ er mit Tempo und Wucht erklingen. Schnelles Tempo hielt er auch in den heiteren Parlando-Szenen in der ersten Hälfte des ersten und letzten Bildes durch. Umso eindringlicher langsam erklang dagegen etwa das Thema Mimis im ersten Bild, wobei das Tempo der Wiederholung im letzten Bild eher noch langsamer wurde, quasi als verklärende Erinnerung des ersten Treffens der beiden Liebenden. Zahlreiche Ritardandi wurden zusammen mit den Sängern immer an passenden Stellen intensiv ausdirigiert. Größten Eindruck hinterließ das Orchester an leisen Stellen, so z.B. die lautmalerische Beschreibung des Wintermorgens zu Beginn des dritten Bildes. Um ihr Thema deutlich hörbar werden zu lassen, erhoben sich zweimal die Holzbläser von ihren Sitzen, , etwa vor dem letzten Duett der Liebenden. Die Qualität des Orchesters zeigte sich natürlich auch bei einzelnen Solisten. Hier sei etwa die günstig platzierte und sehr viel beschäftigte Harfe – auch im Zusammenspiel mit Flöten – erwähnt, die man aus dem Orchestergraben sonst viel weniger hört. Ausdrucksvoll spielte die Oboe zu Beginn der Szene zwischen Rodolfo und Mimi im ersten Bild, einfühlsam begleitete das Violinsolo Mimis Schicksal, zum Schluß sogar zwei Solo-Violinen pppp!
Bei szenischen Aufführungen gibt es bei den Massen im zweiten Bild oft ein Durcheinander, wo die Chöre einschließlich Kinder und keifender Mütter mit den Solisten zusammen singen. Das war hier alles sehr schnell und exakt gespielt, auch weil der MusicAeterna Chor und der vortreffliche WDR Kinderchor Dortmund hinter dem Orchester auf der Bühne platziert waren und sich so ganz suf das Singen konzentrieren konnten.
Nach den beschliessenden Grave-Schlußakkorden vom ff diminuendo zum pppp gab im ganz ausverkauften Konzerthaus eine Schweigeminute, bevor langer starker Beifall, natürlich stehend, und Bravos für alle Mitwirkenden gespendet wurde. Durch ein paar Schläge der Pauke konnte er zeitweise sogar rhythmisiert werden. Es hätte ruhig noch länger applaudiert werden können, denn in einem nahegelegenen Parkhaus war der Kassenautomat ausgefallen und die Schranken mußten einzeln von Hand bedient werden.
Sigi Brockmann 6. November 2017
Fotos (c) Pascal Amos Rest