Während sich in Europa der Erste Weltkrieg zusammenbraute, hielt sich der mit seinen Ballettmusiken erfolgreiche, aber auch von Skandalen begleitete Igor Strawinsky (1882-1971) am Genfer See auf. Von der allgemeinen Stimmung angesteckt, schrieb er drei Klavierstücke, die er zunächst als Grotesken bezeichnete, denn für jedes Stück schwebte ihm eine absurde Situation vor. Diese Entwürfe, im Zeitraum bis 1918 für Streichquartett eingerichtet, stellten Chad Hoopes und Mira Wang (Violine), Ulrich Eichenauer (Viola) gemeinsam mit Andrei Ioniţă (Violoncello) zu Beginn des Festival-Abschlusskonzertes vor.
Das Stück an den Konzertanfang zu setzen und ihm Josef Suks Opus 1 folgen zu lassen war aber ein Wagnis. Das rhythmische Vertrackte führte, zumindest mich, in eine Stimmung, die das Melodisch folgende kaum aufzunehmen vermag. Strawinsky hatte primitive Klangbilder, ein erbärmlich klingendes Geigenspiel zum Stilmittel erhoben und durch unregelmäßig überlagerte Motivwiederholungen in ein irritierendes Chaos gestürzt, dass eigentlich die Konzertpause an dieser Stelle angebracht gewesen wäre.
Der Sohn des Krecovicer Dorfmusikers und Schulmeisters Josef Suk (1874-1935) gelangte schon im Alter von elf Jahren in das Prager Konservatorium und begann früh Kammermusik zu schreiben. Viele dieser Werke sind verschollen oder ohne Opus-Zuordnung überliefert.
Erst das 1891 komponierte „Klavierquartett Nr. 1 a-Moll“ wurde von ihm als gelungen gefunden, dass es als Examensarbeit am Prager Konservatorium einreichte und es als Josef Suks „op. 1“ in die Musikgeschichte eingehen konnte. Das Spätromantische Werk wurde von dem Pianisten Illia Ovcharenko, dem Geiger Kai Vogler, dem Bratscher Paul Neubauer und dem Cellisten Andreas Brantelid in einer großartigen Interpretation zu Gehör gebracht. Die Musiker betonten bei ihrem Spiel das Opulente der Komposition, ohne dabei zu viel Gefühl zu zulassen. Bei aller Romantik blieb die Spannung aufrecht und der Charakter der wunderbaren Aufführung geradlinig.
Leider brauchte ich nach dem „Strawinsky“ tatsächlich nahezu das „Allegro appassionato“ um mich in Suks Musik hineinzufinden. Dazu kam, dass sich eine Dame vor mir unbedingt Luft zufächeln musste, so dass die wunderbare Suk-Darbietung für mich eingeschränkt blieb.
Eigentlich nur weil es zu einer umfassenden humanistischen Ausbildung gehörte, wurden den vier Kindern der Hamburg-Berliner Bankiersfamilie Mendelssohn Musikinstrumente gelehrt und Grundlagen der Musiktheorie beigebracht. Und da es sich Abraham Mendelssohn (1776-1835) leisten konnte, wurden dazu elitäre Musikpädagogen wie der damals bekannteste Pianist Ludwig Berger (1777-1839) engagiert. Obwohl der Bankier für seine Kinder eine bürgerliche Zukunft anstrebte, war nicht zu vermeiden, dass recht früh die besonderen musikalischen Begabungen der ältesten Tochter Fanny (1805-1847) und des ersten Sohnes Felix erkennbar wurden. Das Familienoberhaupt sah mit gerunzelter Stirn, wenn die musikalischen Talente der Kinder im gesellschaftlichen Umfeld zur Schau gebracht wurden, und missbilligte eine aufstrebende Musiker-Karriere des jungen Felix. Erst die massive Intervention Luigi Cherubinis (1760-1842), als Felix anlässlich des gemeinsamen Paris-Aufenthalts dem betagten Komponisten vorgespielt hatte, ließen den Vater einlenken.
Im Oktober 1825 komponierte der sechzehnjährige Felix Mendelssohn (1809-1847) als Huldigung für seine Musiklehrer ein „Streichoktett Es-Dur“. Wegen des 23. Geburtstags von Eduard Rietz (1802-1832) war diesem Freund und Violen-Lehrer die erste Geigenstimme zugeordnet worden. Das Streichoktett Es-Dur ist neben der Sommernachtstraum-Ouvertüre die erste ganz große Kompositionsleistung des jungen Genies. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass das Werk inzwischen nahezu ausschließlich, wie auch in unserem Konzert, in einer von Felix im Jahre 1832 vorgenommenen Überarbeitung geboten wird. Dabei sei nicht unterschlagen, dass mit der Überarbeitung mancher jugendliche Schnörkel geopfert wurde.
Der Tradition des Festivals folgend war eine für das Festival charakteristische Kombination von jüngeren und erfahreneren Musikern aus fünf Ländern mit einer noch deutlich breiteren kulturellen Herkunft auf das Podium gekommen, um das diesjährige Moritzburg-Festspiele mit einem Höhepunkt abzuschließen. Die vier Violinen wurden von Paul Huang, Stella Chen, Kai Vogler und Mira Wang gespielt. Als Bratscher war Ulrich Eichenauer aktiv, während Andreas Brantelid sowie von Andrei Ioniţă mit ihren die Violoncelli musizierten.
Bereits mit dem wuchtigen Kopfsatz gelang es den Musikern, mit kühnen Kontrasten und markanten Artikulierungen die Spannkraft aufzubauen. Ein betont deutliches und rhythmisch akzentuiertes Spiel kompensierte das Mendelssohn´sche Problem, dass die Themen nicht sonderlich voneinander abgesetzt wirkten und erhielten die jugendlich vordrängenden scharfen Linienprofile und plastischen Auffächerungen des Werkes. Paul Huang betonte mit seiner wundervollen Guarnerie del Gesu den Geist des Werkes und spielte mit jugendlicher Vitalität, musikalischer Mühelosigkeit und Leichtigkeit. Die hervorragende Kontrolle der Dynamik vereint mit der Vielfalt der Klangfarben drückte die große Leidenschaft, Kraft und Inspiration des Ensembles aus. Das lyrische Andante als auch das hauchdünne Scherzo sicherten dieses Drängen mit tief empfundenen Emotionen und viel Temperament, gleichzeitig geschliffen und ungemein präziser Transparenz bis zum Schluss.
Für den frenetischen Beifall der Zuhörer bedankten sich die Musiker mit einer Wiederholung des Finalsatzes des Mendelssohn´schen Es-Dur –Streicher-Oktetts. Unter Ovationen im Stehen verabschiedeten sich die Musiker, Helfer und Organisatoren des erfolgreichen Festivals 2023.
Thomas Thielemann, 20. August 2023
Abschlusskonzert der Moritzburger Festspiele 2023:
Igor Strawinsky: Drei Stücke für Streichquartett
Josef Suk: Klavierquartett Nr. 1 a-Moll op. 1
Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichoktett Es-Dur op. 20
Kirche Moritzburg
20. August 2023
Musikalische Leitung: Jan Vogler