Bremen: „35. Musikfest“, Teil 1

Kontrastreiches Programm

In diesem Jahr begann das Musikfest Bremen (wohl aus terminlichen Gründen) schon gut eine Woche vor der traditionellen „Großen Nachtmusik“ mit einem Sonderkonzert: Das von Daniel Barenboim und Edward W. Said 1999 in Weimar gegründete West-Eastern Divan Orchestra feiert das 25jährige Jubiläum seines Bestehens mit einer Tournee, die ihren Auftakt in Bremen hatte und deren weitere Stationen (bis zum 18. August) die Berliner Waldbühne, die BBC Proms in London, das Rheingau Musik Festival, die Salzburger Festspiele und das Lucerne Festival sind. Das dürfte für den gesundheitlich angeschlagenen Daniel Barenboim wohl ein Kraftakt werden. Solistin ist in allen Konzerten Anne Sophie Mutter. Sie ist auch Ehrenmitglied des Orchesters.

© Nikolai Wolff

Das zunächst als Jugendorchester gegründete Ensemble besteht aus israelischen, palästinensischen und weiteren arabischen Musikern. Inzwischen hat sich das Orchester einen festen Platz im internationalen Musikleben erobert. Auch heute noch ist das Orchester mit überwiegend jungen Musikern besetzt. Ihnen allen ist ein bedingungsloser Einsatz und eine mitreißende Begeisterung gemeinsam. Das ist auch beim Bremer Konzert spürbar, selbst wenn nicht alles immer ganz perfekt klappt.

Angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten brachten zu Beginn drei Musiker in kurzen Statements ihre Bestürzung über die Eskalation der Gewalt in bewegenden Worten zum Ausdruck.

© Patric Leo

Im ersten Teil stand das Violinkonzert D-Dur op. 77 von Johannes Brahms auf dem Programm. Barenboim ging das Werk mit bedächtigem Tempo an. Er dirigierte sitzend und mit äußerst sparsamer, auf das Notwendigste beschränkter Zeichengebung. Aber im Mittelpunkt stand ohnehin Anne Sophie Mutter, die mit schlankem, schwebendem Ton die Melodie auskostete. In der hochvirtuosen Kadenz brannte sie ein technisches Feuerwerk ab. Lieblich und zart, mit inbrünstigem Ausdruck und sehr gefühlvoll gestaltete sie das Adagio. Da schien die Zeit still zu stehen. Mit Schwung und Temperament kam der dritte Satz daher, der All‘ ungherese überschrieben ist. Hier überzeugte auch das Orchester mit seinem satten Klang am meisten. Mutter bedankte sich für den frenetischen Beifall mit der Sarabande in d-Moll von Bach.

Die Sinfonie Nr. 8 C-Dur D. 944, die sogenannte „Große“ C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert, ist mit ihren „himmlischen Längen“, wie Robert Schumann es ausdrückte, ein Schlüsselwerk der romantischen, sinfonischen Literatur. Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra realisierten eine insgesamt respektable Wiedergabe, die gleich vom ersten Thema der Hörner an mit rundem Klang für sich einnahm. Trotzdem mangelte es dem ersten Satz etwas an Binnenspannung. Beim Andante con moto mit seinen Trauermarsch-Rhythmen ließ er die Bläser ordentlich schmettern. Dennoch war die Dynamik mitunter .wenig variationsreich. Höhepunkt war das gewaltig auftrumpfende Finale, bei dem das Orchester mit imponierenden Klangfluten begeisterte. Als Zugabe gab es noch das verschmitzte Scherzo aus dem „Sommernachtstraum“ von Mendelssohn-Bartholdy. Der begeisterte Beifall dürfte auch der Lebensleistung von Daniel Barenboim gegolten haben. (7. August 2024)


© Patric Leo

Bei der „Großen Nachtmusik“ konnte man sich wieder ein kontrastreiches Programm zusammenstellen. In der Kirche „Unser Lieben Frauen“ gab es das Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi. Es entstand 1736, wenige Wochen vor dem Tod des Komponisten. Das Werk für Sopran und Alt (hier mit einem Countertenor besetzt) besteht aus sieben Duetten, zwei Sopran-Arien und drei Alt-Arien. Die Grundstimmung ist zwar durchweg von Schmerz und Klage erfüllt, es gibt aber auch fast opernhaft bewegte Momente mit virtuoser Behandlung der Gesangsstimmen. In Fac me cruce custodini  hellt sich die Stimmung auf und Quando corpus morietur verbreitet Trost – auch wenn es ein Trost unter Tränen ist. Unter der Leitung von Maxim Emelyanychev musizierte das Orchester Il Pomo d’ Oro in kleiner, kammermusikalischer Streicher-Besetzung. Die Solisten waren die Sopranistin Mélissa Petit und der Countertenor Jakub Józef Orliński. der auch bei der olympischen Eröffnungsfeier in Paris als Sänger (und Breakdancer!) mitwirkte. Es war eine Wiedergabe, die durch große Intensität und feinste Klangnuancen ergriff und überzeugte. Beide Solisten hinterließen nicht nur in ihren Soloparts tiefen Eindruck .- es waren aber vor allem die Duette, die den wunderbaren Gesamteindruck prägten. Die Stimmen mischten sich in idealer Weise zu einem fast unwirklichen, geradezu himmlischen Klangereignis. Virtuose Passagen und getragene, pastose Melodiebögen wurden mit tiefem Ausdruck vorgetragen. Die Atmosphäre des Kirchenraums verstärkte noch die Wirkung. Dieses Konzert war ein Juwel!


© Nikolai Wolff

Im Innenhof der Norddeutschen Landesbank (NORD/LB) gab es ein veritables Kontrastprogramm. Die Hornistin Sarah Willis und ihre Sarahbands (bestehend aus sieben Musikern des Havana Lyceum Orchestra) stellten eine gelungene Verbindung zwischen Mozart und kubanischer Musik her. Sarah Willis ist Solohornistin der Berliner Philharmoniker und hat vor einigen Jahren mit dem Havana Lyceum Orchestra ihr Projekt „Mozart y Mambo“ ins Leben gerufen. Inzwischen hat sie mit Sarahbands ihr eigenes Ensemble gegründet (Saxophon, Trompete, Violine, Kontrabass, Klavier und Percussion). Und in dieser Besetzung geht wahrhaftig „die Post ab“. Wie sie Mozarts 3. Hornkonzert mit kubanischen Rhythmen anreichert oder die „Kleine Nachtmusik“ als Cha-Cha-Cha, Bolero oder Mambo serviert, macht einfach gute Laune. Saxophon und Horn spielen sich dabei vergnüglich die Bälle zu. Rhythmus und Lebensfreude ist Trumpf. Auch kubanische Klassiker wie das durch den Buena Vista Social Club populär gewordene „Chan Chan“ oder „El manisero“, bei dem die Trompete sich zum Horn und zum Saxophon gesellt, dürfen nicht fehlen. Die Musik ist geradezu eine Einladung zum Tanz, der Willis und einige ihrer Musiker prompt folgen. Weil zudem die Sonne ihre Abendstrahlen schickte, war die kubanische Sommernacht perfekt.


© Patric Leo

Klassisch wurde es dann wieder im Konzerthaus „Die Glocke“. Jérémie Rhorer und sein Orchester Le Cercle de l’ Harmonie waren schon häufig beim Musikfest zu Gast. Diesmal hatten sie die Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68  von Ludwig van Beethoven im Gepäck. Das überwiegend mit jungen Musikern besetzte Orchester musizierte engagiert und mit viel Elan. Rhorer nahm den Kopfsatz mit schnellem Tempo, kostete dann aber die „Szene am Bach“ mit Ruhe und strömendem Fluss aus. Im Scherzo, dem „Lustigen Zusammensein der Landleute“, wurde die Musik schon fast dramatisch, bevor dann „Gewitter und Sturm“ eruptiv hereinbrachen. Der Klang des Orchesters war hervorragend. Und auch die viel geforderten Hörner erfüllten ihre Aufgabe (fast immer) zuverlässig. In stimmigem Tempo wurde der „Hirtengesang“ zelebriert. Dirigent und Orchester wurden für diese schöne Wiedergabe stürmisch gefeiert. (17. August 2024)

Wolfgang Denker, 18. August 2024