Vor 100 Jahren rief der ewige Landesvater Mustafa Kemal Pascha, Atatürk, die Republik Türkei aus, genau am 29. Oktober 2023. Das osmanische Reich war im 1. Weltkrieg faktisch zusammengebrochen. Die Hauptstadt wurde damals von Istanbul nach Ankara verlegt, heute eine moderne und interessante Großstadt, in der auch das spektakuläre Mausoleum Atatürks steht.
Anlässlich dieses geschichtsträchtigen Anlasses führte die Sofia Oper und Ballett aus Bulgarien ein Gastspiel mit ihrer Produktion der „Tosca“ von Giacomo Puccini durch, und zwar am 8. November in Ankara und am 11. November in Istanbul. Kemal Atatürk, der große Reformer, war ein Bewunderer der Oper, und er liebte besonders auch Puccinis „Tosca“. Somit wollte der Generaldirektor der Sofia Oper und Regisseur der Inszenierung, Plamen Kartaloff, mit diesem Gastspiel unter anderem die Bedeutung der Kunst, also der Kunstform Oper, für das gemeinsame Verständnis über Landesgrenzen hinweg mit dem Gedenken an Atatürk verbinden. Ein zur Gänze gelungenes Projekt schon nach diesem Abend in Ankara. Und im allerdings auch viel größeren Opernhaus in Istanbul drei Tage später war der Zuspruch des türkischen Publikums noch viel imposanter!
Es ist die Einfachheit des Bühnenbildes von Miodrag Tabacki, das diese Inszenierung so überzeugend macht, mit einem passenden Lichtdesign von Andrei Hajdinyak und Emil Dinkov, wie auch eine hervorragende Personenführung der Sängerschauspieler, die aber auch große Freiheiten in der Interpretation ihrer Rollen haben. Ein riesiges christliches Kreuz, das über der Bühne hängt, dominiert den ersten und dritten Akt. Es ist mit stückbezogener christlicher Malerei versehen und sorgt so für eine gewisse Interpretation und stimmige Assoziationen zur Handlung. Auf dem Kreuz sind eine biblische Kreuzigungsdarstellung und das Kuppelgewölbe mit der Apsis der Kirche Sant’Andrea della Valle sowie das Porträt der Attavanti zu sehen. Als Boden ist der Marmorbelag der Kirche erkennbar. Der Aufmarsch von hochrangigen christlichen Würdenträgern zum Te Deum ist imposant. Im 3. Akt sehen wir hingegen die grauen Pflastersteine der obersten Plattform der Engelsburg mit dem Petersdom im Hintergrund – klassisch. Die somit überaus spannende Inszenierung der Sofia Oper wurde vom Publikum, mit einem hohen Anteil an Prominenz und politischer Vertretung, sehr gut angenommen. Offizielle beider Länder hielten zu Beginn des Abends längere Reden, und es wurde auch die türkische Nationalhymne gespielt.
Radostina Nikolaeva, die große Sofioter Sopranistin für Puccini über Wagner bis Verdi et al., gab eine eindrucksvolle Tosca, sowohl darstellerisch wie sängerisch, eine nahezu ideale Verkörperung der Rolle. Auf diesem Niveau könnte sie die Diva problemlos an jeder größeren westeuropäischen Bühne singen und spielen. Der Rumäne Ionut Pascu begeisterte mit einer unglaublich authentischen und intensiven Darstellung des Baron Scarpia, ebenfalls mit großartiger stimmlicher Artikulation seines Baritons. Seine Aktionen waren zeitweise spannend wie in einem Krimi. Kostadin Andreev sang den Cavaradossi mit viel Kraft, ließ es aber wieder an sängerischer Dimensionierung und Feinzeichnung missen. Der Tenor, der neben dem italienischen und französischen Fach auch einen kraftvollen jungen Siegfried singt, könnte viel mehr aus seinem großen Material machen. Aber scheinbar ist er davon nicht überzeugt und versteigt sich in erster Linie auf Lautstärke.
Angel Hristov war ein sehr guter Angelotti, dem man die Strapazen der Flucht nachfühlen kann, und Petar Buchkov, der Sofioter Hagen – man glaubt es kaum – debutierte hier als Messner. Auch die weitere Nebenrollen waren ansprechend besetzt. Der Chor, der im 1. Akt einen sehr starken Auftritt hatte, wurde vom der Staatsoper Ankara bereitgestellt und von Nikolay Merdzhanov einstudiert.
Der GMD der Staatsoper Ankara, Sunay Muratov, dirigierte das Orchester der Sofia Oper und Ballett und interpretierte das intensive Geschehen auf der Bühne mit einer ebenso ausdrucksvollen Dramatik und musikalischen Farbgebung aus dem Graben. So entstand eine Aufführung wie aus einem Guss. Großer und lang anhaltender Beifall, auch zu den einzelnen Arien während der Aufführung.
Klaus Billand 8. Dezember 2023
Tosca
Giacomo Puccini
Staatsoper Ankara
Besuchte Vorstellung: 8. Oktober 2023
Regie: Plamen Kartaloff
Dirigat: Sunay Muratov
Orchester der Sofia Oper und Ballett