1946 bis 1956 erschienen drei Romane und eine Novelle um das düstere Schloß Gormenghast, dessen Bewohner, die nicht weniger düstere gräfliche Familie Groan sowie beider Untergang durch einen rach- und machtsüchtigen Emporkömmling. Diese Dystopie war in ein ungefähres Mittelalter gepflanzt, aber gleichzeitig an Figuren wie Hitler und Stalin mit ihrer ärmlichen Herkunft und zerstörerischen Karriere orientiert.

In den 80er- und 90er-Jahren gab es davon Radio-, TV- und Sprechtheateradaptionen. Am 15. November 1998 hatte in Wuppertal die Oper von Irmin Schmidt Uraufführung. Der 1937 Geborene ist studierter Pianist, Komponist und Dirigent, unter dessen Lehrern sich u. a. György Ligeti, István Kertesz, Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio finden. Er startete eine Karriere als Dirigent. 1968 gründete er in Köln die experimentelle Rockgruppe „Can“, die u. a. durch einige Filmmusiken weitere Bekanntheit erlangte. Diesem Metier blieb Schmidt auch später treu, z. B. als Komponist für „Das Messer im Kopf“ (Reinhard Hauff, 1978) oder „Palermo Shooting“ (Wim Wenders, 2008).
Natürlich wurden Handlung und Personal von Peake’s Werk für die inclusive Pause dreistündige Oper gestrafft – im Wesentlichen sind die ersten beiden Romane deren Gegenstand. Genügend bizarre, für eine musikalische Charakterisierung lohnende Figuren blieben über: Es geht um den vom Küchenchef Swelter mißhandelten und vergewaltigten Küchenjungen Steerpike, der mit ebenso viel Intrige wie Gewalt nicht nur Stufe für Stufe Rache nimmt, sondern schließlich auch das Schloß samt dessen wertvoller Bibliothek zerstört und dessen Reste vereinnahmt. Der zu Beginn der Oper geborene Titus Groan überlebt am Ende Steerpike.
Schmidt nennt (im Begleittext zur CD-Aufnahme) das Werk eine „Fantasieoper“ und sagt: „Gormenghast ist, sowohl im Geist als auch in der Form, eine Grand Opéra. Aber Elemente und Charakteristika von Musicals, Rockkonzerten und modernem Tanztheater spielen darin eine ebenso wichtige Rolle.“ 1995 stellte er die noch nicht fertiggestellte Oper bei der britischen Peake-Gesellschaft vor und sagte: „Ich bin kein Avantgarde-Künstler mehr, der darauf aus ist, zu schockieren. Ich möchte, daß die Leute meine Musik genießen.“
Und genau das war der Eindruck, den wir heute Abend mitnahmen: natürlich ist das Musik des späten 20. Jahrhunderts, mit allen kompositorischen Techniken und Freiheiten – aber gleich zu Beginn erleben wir die höfische, aber auch chaotisch-katastrophale Szene der fast schief gegangenen Geburt des Titus als Echo einer Barockoper, und darauf folgt eine wundersam modern-lyrisch ausgeführte Liebeserklärung der Gräfin an ihre Katzen. Die beiden Schwestern des Grafen, die Steerpike zur Brandstiftung im Schloß bestimmt, kommen musikalisch als Vampyrwalküren daher; als Lord Sepulchrave über dem Verlust seiner Bibliothek im Wahnsinn versinkt, ist das tief bewegend im Sinne des Postulates von Bellini, daß Oper schaudern machen und Tränen entlocken müsse. Insgesamt ist die Musik faszinierend, aufregend, gefangennehmend, psychedelischer Rock mit Würze und Intensität Stockhausens – ein dunkles Juwel!
Einerseits gelingt Benedikt Ofner eine mitreißende musikalische Umsetzung, bei der er auch mit einem speziellen Arrangement zurechtkommt: es gibt ein komplettes Gerüst von Zuspielungen aus 1998 (Synthesizer, Brandenburger Symphoniker unter Leitung des Komponisten), das mit einem Streichquartett („The Rite of the Castle“) im Orchestergraben und den Sängerinnen und Sängern koordiniert werden muß. Das funktioniert mit Präzision, Frische und emotioneller Klarheit.
Andererseits steht auch die Inszenierung (Andreas Baesler) im überzeugenden Einklang mit Musik und Text; der Bühnenaufbau von Harald B. Thor ist ein weißes, Escher-artiges Konstrukt von Stiegen und Geländern, das je nach Bedarf entlang der Bühnentiefe verschoben wird und mittels Lichts zusätzliche Bedeutung erhält. Tanja Hofmann schuf die Kostüme, schrill, bunt und humorvoll, mit mehr als nur einem Seitenblick auf Alice in Wonderland. Yuko Haradas Choreografie schließt auch die Hauptrollen mit ein und schenkt dem Tanzsextett eindrückliche Auftritte. Eindrucksvoll die Videogestaltung (FH Hagenberg): Katharina Arbeithuber, Lisa Bayr, mit Nils Gallist und Philipp Ludwig Stangl – Konkretes und Abstraktes, Katastrophales und Schönes, immer in Einklang mit Handlung und Stimmung der Musik. Dramaturgie: Christoph Blitt und Johanna Würth, mit aufschlussreichem Programmheft.
Lord Sepulchrave of Groan: Alexander York mit großartigem Bariton, der besonders mit völlig „glattem“ Passeggio-Legato beeindruckt; sein Verfall nach dem Verlust der Bibliothek ist erschütternd. Gräfin Lady Gertrude ist Gotho Griesmeier mit Intensität und eindrucksvoller Gestaltung. Génesis Beatriz López Da Silva (G) ist als Tochter Fuchsia sängerisch (Mezzo, aber mit absolut freier Höhe!) und in der Gestaltung ebenso eindrucksvoll wie ihr „Vater“. Sohn Titus ist eine pantomimische Rolle, mit größtem körperlichem Einsatz von Maximilian Stein dargeboten.
Die Zwillinge Cora und Clarissa, Schwestern des Earl, sind mit Morgane Heyse und Maria Tkach (G) sängerisch erstklassig und darstellerisch aberwitzig eingesetzt, sozusagen als Quintessenz der aberwitzigen Geschichte. Der Druide Barquentine ist Jannik Harneit (G), stimmlich erstklassig und als Figur zwischen Würde und Wirrnis.

Tim Al-Windawe (G; Steerpike) kommt von Jazz und Musical und bringt punktgenau die richtigen Fähigkeiten für die Rolle mit – überzeugende Leistung an zentraler Stelle! Immer wieder im Vordergrund der Hofarzt Dr. Prunesquallor mit dem hervorragenden Tenor von Martin Enger Holm (G, früher Opernstudio, wie Frau López).
Hausdiener (und Retter aus der Not) Flay ist Sebastian Hufschmidt (Schauspielensemble): scheinbar unauffällig, aber im richtigen Moment wirkungsvoll. Der üble Küchenchef Swelter wird vom Gast Vladimir Slepec stimmlich intensiv und mit rabenschwarzer Komik dargestellt. Nanny Slagg ist mit Herrn Hufschmidts Kollegin Eva-Maria Aichner auf den Punkt besetzt.
Die quirlige (aber nötigenfalls auch zackige) Breakdance-Gruppe deckt mit Stefan Buchroithner, Julius Dirnberger, Daniel Haghofer, Fabian Schleindl, Philipp Sebinger und Jeremy Zimmermann Küchenjungen, Hausdiener und Wachen ab.
Große Begeisterung im nicht sehr gut besetzten Saal für Bühnenpersonal, Musik, Produktionsteam und noch eine Extraportion Applaus für den anwesenden Komponisten.
Petra und Helmut Huber 1. November 2025
Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom MERKER-online (Wien)
Gormenghast
Fantasy-Oper in drei Akten von Duncan Fallowell
nach der Gormenghast-Trilogie von Mervyn Peake
Musik von Irmin Schmidt
Linz / Schauspielhaus
Premiere 31. Oktober 2025
Inszenierung Andreas Baesler
Dirigat: Benedikt Ofner
Brandenburger Symphoniker