Zürich: „West Side Story“, Leonard Bernstein

Aus den weit über 100’000 Werken, die für das Musiktheater kreiert wurden, schaffen es nur ein paar Dutzend unauslöschlich im Gedächtnis der Allgemeinheit und auf den Spielplänen weltweit zu verbleiben. Leonard Bernsteins „West Side Story“ mit den Songtexten von Stephen Sondheim gehört zweifelsohne dazu. Hier kommen eine zeitlos aktuelle Handlung, wundervoll komponierte Musik und großartige Songtexte zusammen und berühren seit 65 Jahren immer wieder aufs Neue das Publikum. So auch gestern Abend im Theater 11, wo die Neuinszenierung von Lonny Price Premiere feierte. Es ist eine mitreißende und bewegende Aufführung geworden, die so richtig unter die Haut geht. Dem renommierten Regisseur gelang mit dieser Inszenierung eine mustergültige Aufführung, die einen vom ersten Auftritt der Jets bis zum tragischen Ende zu fesseln verstand.

Nur ein Beispiel für seine herausragende Personenführung: Er verstand es, den Mitgliedern der beiden Gangs – Jets und Sharks – mit halbsolistischen Rollen individuelles Profil zu verleihen und so die Gruppenkonstellationen und ihre Implikationen hochspannend zu machen. Besonders hervorzuheben sind bei den Jets die junge Frau Anybodys (Laura Leo Kelly), die unbedingt bei den harten Jungs mitmachen will, Diesel (Mark Zurowski), Baby John (Calvin Ticknor Swanson) und Snowboy (Liam Johnson), sowie Action (Antony Gasparre III), A-Rab (Sky Bennett) und Big Deal (Ashton Lambert).

(c) Johan Persson

Bei den Sharks begeisterten der großartig agierende Chino (Christopher Alvarado) und die Chicas Rosalia (Michel Vascas), Consuela (Deanne Cudjoe) und Teresita (Gianna Annesi). Hitzköpfe der Sharks waren auch Pepe (Alessandro Lopez), Luis (Michael Bishop), Anxious (Vako Gvelesiani), Moose (Ernesto Olivas) und Nibbles (Gerardo Esparza). Das spielfreudige, präzis und schwungvoll tanzende und ausgezeichnet singende Ensemble wurde ergänzt mit Graziella (Natalie Soutier), Minnie (Nicole Lewandowski), Velma (Victoria Biro), Clarice (Gabi Simmons), Francisca (Maja Rivero) und Margarita (Veronica Quezada).

In den Hauptrollen ließ an erster Stelle die Maria von Melanie Sierra aufhorchen. Welch eine wunderbare Sopranstimme, leicht und sauber ansprechend und mit einem fantastischen naiven Timbre, welches die Tragik dieser Figur erlebbar machte. Sie konnte theatralisch schmollen, ihre stürmische Verliebtheit ausdrücken und am Ende mit berührender Kraft zur Versöhnung aufrufen. Ihr a capella intoniertes „somewhere“ über der Leiche ihres Geliebten Tony ließ kein Auge trocken, das fuhr ganz gehörig ein. Grandios! Als Tony begeisterte Jadon Webster mit fein geführter Stimme, ein die nicht ganz einfachen gesanglichen und intonatorischen Klippen wunderbar meisternder junger Mann auf der Schwelle zum Erwachsen werden. Fantastisch agierten die temperamentvolle Anita von Kyra Sorce und der Rädelsführer und Feuerkopf Riff (Taylor Harley) von den Jets und der stolze Macho Bernardo (Antony Sanchez) von den Sharks. Vortrefflich besetzt waren die vier Erwachsenen: Der weise Doc (Darren Mattias), der rassistische Lt. Shrank (Bret Tuomi), der etwas tumbe Officer Krupke (Eric Gratton) und der tuntige Glad Hand (Stuart Dowling).

Die Choreographien von Julio Monge waren temperamentvoll, energiegeladen und gerade in den Schlägereien zwischen den Gangs raffiniert und kraftvoll echt wirkend. Anna Louizos hat eine stimmungsvolle, funktionale Bühne kreiert, mit den wandelbaren und vielseitigen Schauplätzen schnell und trefflich verortenden Block in der Mitte. Durch sich öffnende Elemente waren die Balkonszene, das Zimmer Marias, Docs Drugstore und das Nähatelier im Handumdrehen da, der Stars and Stripes Zwischenvorhang bei der Ballszene machte großen Effekt und die Gitterabsperrung für den fatalen Kampf unter der Autobahnbrücke verbreitete die passend düstere und unheimliche Stimmung. Vor allem aber wird der flammend orange Vorhang zum utopischen „somewhere“ in Erinnerung bleiben. Eine Verschmelzung von Inhalt, Melodie und Bild die ihresgleichen sucht!

Ein erstaunlich Großes Orchester hatte im schmalen Graben des Theaters Platz gefunden und spielte unter der Leitung von Grant Sturiale Bernsteins Partitur mit Verve, aber auch mit ganz fein ausgehorchten Zwischentönen, die von der reich besetzten Bläsergruppe wunderbar intoniert wurden.

Ein ganz großes Lob gebührt der Beleuchtungs-Equipe und vor allem auch der Technik: Die Musik und der Gesang waren akustisch perfekt ab gemixt und vor allem nie übersteuert, wie das leider sonst oft bei Musical-Produktionen vorkommt. Fazit: Unbedingt empfehlenswert!

Kaspar Sannemann 18. Januar 2023


„West Side Story“ Leonard Bernstein

Zürich, Theater 11

Besuchte Vorstellung: 17. Januar 2023

Choreografie: Julio Monge

Regie: Lonny Price

Dirigat: Grant Sturiale