Schon fünf Jahre bevor er mit seinem beeindruckenden Wagner-Programm an der Sofia Oper und Ballett begann, stattete Regisseur Plamen Kartaloff der Nationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien einen nachhaltigen Besuch ab und inszenierte die mazedonische Kult-Oper „Lydia aus Mazedonien“ von Risto Avramoski. Nun erlebte sie nach der Premiere 2005 eine Wiederaufnahme nach immerhin 18 Jahren, wobei Trajko Jordanovski mit der Regie-Assistentin Ljupka Jakimovska die Wiederaufnehme betreute.
Dazwischen liegt eine Zeit, in der das Land den Namen in Nordmazedonien wechseln musste aufgrund einer Intervention Griechenlands, das mit dem nach dem Zerfall Jugoslawiens ursprünglichen Namen Mazedonien eine Verwechslung mit seiner nördlichen Provinz bemängelte. Zudem sind die politischen Beziehungen zwischen Bulgarien und Nordmazedonien nicht die besten, was dieser Wiederaufnahme durch den bulgarischen Regisseur Kartaloff, der an diesem Abend auch mit sichtbar großer Freude von den Offiziellen im Publikum empfangen wurde, eine zusätzliche positive Note verlieh. Die Kunstform Oper kann eben immer noch über Grenzen hinweg vermitteln und bessere, wenn nicht gar gute Stimmung schaffen. Das sollte man bei der weiteren Pflege der Oper, sofern man momentan überhaupt generell von einer solchen sprechen kann, nicht aus den Augen verlieren… Das Libretto wurde von den Franzosen Guy Shele und Dora Petrova verfasst und die Transkription von Liljana und Jordan Plevnesh.
Das Buch „The Bible’s Forgotten Women“ wurde in New York City sowie in einigen Welt-Hauptstädten veröffentlicht und erregte großes Interesse in der Öffentlichkeit. Lydia, die Mazedonierin, war die bedeutendste „Entdeckung“ unter den „vergessenen Frauen“ der Bibel. Sie war die Frau, die den gesamten Senat des Römischen Reiches aufs Cäsars Geheiß, der im Rahmen der Oper erfolgt und eine große Wende bewirkt, mit lila Togen versorgte. In dem Moment erschien der Apostel Paulus auf mazedonischem Boden und folgte dem berühmten „Aufruf der Mazedonier“ mit dem Satz: „Komm nach Mazedonien und rette uns.“ Angst von innen und Bedrohungen von außen schaffen den Moment, in dem sich die Botschaft des Christentums von der palästinensischen in eine universelle Botschaft verwandelt, die jede nichtchristliche Nation auf der Welt anzieht. Das wird so im Programmheft als der Moment des Beginns der modernen Geschichte der Menschheit bezeichnet: die Christianisierung Europas und der Welt!
Lydia, die Mazedonierin (das ist ihr genauer Name in der Bibel), war die erste Frau, der erste Mensch überhaupt, den der Apostel Paulus, der die Hauptrolle im Stück spielt, auf dieser zweitausendjährigen Odyssee christianisierte. So wird das Haus Lydias zur ersten europäischen Kirche und auch der ganzen Welt. Ein Engelschor kommt in diese Haus-Kirche, um die Geschichte der „Liebeszivilisation“ von Christi Geburt bis zu seiner Kreuzigung und Himmelfahrt zur Erlösung der gesamten Menschheit zu erzählen. Regisseur Kartaloff, der ja zudem mit Bulgarien aus einem Land mit orthodoxen religiösen Traditionen stammt – ein weiteres kulturell verbindendes Element dieser Produktion für das gegenseitige Verständnis beider Völker – hat diese christlichen Elemente mit starken Bildwelten in oft farbenprächtige Szenen gesetzt. Diese werden insbesondere von der Kostümbildnerin Elena Doncheva mit vielen folkloristisch gestalteten bunten Gewändern aus der biblischen Zeit unterstützt. Schon vor Beginn der Musik lässt Kartaloff Jesus Christus mit dem Kreuz unter den Peitschenhieben der römischen Soldaten, die mit ihren federnbesetzten Uniformen und steifen Aufmärschen immer wieder das kreisrunde Bühnenpodest (Szene Panche Minov) beherrschen, nach Golgatha ziehen. Das stets stimmungsvoll eingesetzte Licht-Design stammt von Milcho Alexandrov.
So trifft der von langer Wanderung Schmerzen leidende Apostel Paulus im 1. Akteinen Engel Gottes an, der ihm rät, nach Philippi in Mazedonien zu gehen, das von Amoral regiert und von römischen Soldaten gefoltert wird. Paulus kommt in Begleitung von Silas und Timotheus in Philippi an und ist entsetzt über den moralischen Verfall und die perspektivlosen Menschen. Am Flussufer bemalen Lydia, Asia, Agia und Dina ein weißes Tuch mit violetter Farbe. Paulus tauft Lydia, die offenbar schon da eine erfolgreiche Geschäftsfrau war. Im 2. Akt sind wir in Lydias Haus. Lydia verkündet allen, dass sie hier erlaubt, in der Religion des einzigen Gottes, Jesus Christus, zu predigen und Menschen taufen zu lassen. Cäsar erlässt im römischen Senat das Edikt, mit dem er alle Senatoren verpflichtet, violette Togen zu tragen, die aus in Mazedonien hergestellten Stoffen gefertigt sind. Der Apostel Paulus predigt und tauft weiter, wird jedoch von Ikia ausspioniert, die sich fälschlicherweise als Gläubige ausgibt. Er wird verraten und von den römischen Soldaten eingesperrt.
Im 3. Akt sind Paulus, Silas und Timotheus im Gefängnis. Lydia kommt vor die Gefängnismauern, gefolgt von einer Menschenmenge. Sie alle beten gemeinsam zu Gott um Erlösung. In diesem Moment gibt es ein Erdbeben. Die Mauern des Gefängnisses fallen ein und geben die drei frei. Lydia erzählt ihnen, dass die römischen Prätorianer beschlossen haben, sie ohnehin freizulassen. Im 4. Akt bereitet sie eine mit lila Stoffen beladene Pferdekarawane vor. Ein Kind wird von den Hufen eines Pferdes tödlich verletzt, Lydia der Schuld daran bezichtigt und von den römischen Soldaten zur Hinrichtung freigegeben. Da erweckt der Apostel Paulus mit einer Handbewegung das Kind zum Leben, segnet Lydia und versprecht ihr ewige Erwähnung. Lydia nennt Paulus, Silas und Timotheus die drei Sonnen Mazedoniens. Bevor diese davonziehen, verkündet Paulus, dass Mazedonien das von Gott auserwählte Land ist und von hier aus das Neue Testament verbreitet werden wird.
Nade Talevska Spasovska als Lydia und Igor Durlovski als Apostel Paulus ragen mit weitem Abstand aus dem Sängerensemble heraus. Spasovska spielt die Titelrolle mit enormer Emphase und darstellerischer Intensität bei stets guter und aussagekräftiger Mimik und mit viel Emotion. Dabei kommt ihr heller Sopran zu guter Wirkung und erlaubt ihr, alle fordernden Spitzentöne der Partie kunstvoll zu singen. Durlovski leiht dem Apostel Paulus einen ruhigen und facettenreichen Bass, der mit dem entsprechenden Spiel des Sängerdarstellers stets die Souveränität des Jüngers von Jesus Christus auf seiner Mission durch Mazedonien reflektiert. Ebenfalls eine einnehmende Rolleninterpretation. Marjan Nikolovski singt den Timotheus mit einem bisweilen durchaus klangvollen Tenor, aber unzureichender Intonation. Dragan Ampov ist ein Silas mit wohlklingendem Bariton. Die vielen weiteren kleinen oder mittleren Rollen, darunter auch Cäsar und sein Prälat in einer großartig aufgemachten Szene im Senat von Rom, bieten manches Licht, aber auch viel Schatten, sodass hier nicht weiter darauf eingegangen werden soll. Mit der lyrischen Gesangskultur steht es an derNationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien jedenfalls nicht gerade zum Besten.
Ivan Eminović dirigiert das Orchester der Nationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien mit viel Gefühl für die vielschichtigen Ebenen der farbenreichen Partitur. Sie kennt sowohl ruhige und kontemplative Momente, in denen das christliche Element stark hervortritt, aber auch Momente großer Dynamik bis hin zu Explosivität, wo es beispielsweise um die musikalische Schilderung der Zustände in Philippi oder die Festnahme von Paulus, Silas und Timotheus durch die Römer und das spätere Erdbeben, hier auch gut in Szene gesetzt, geht. Dementsprechend kommt auch der von Jasmina Gjorgjeska bestens einstudierte stimmstarke Chor der Nationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien zum Einsatz, der zudem eindrucksvoll choreografiert ist. Trotz einiger stimmlicher Mängel war dies ein äußerst interessanter Opernabend mit einem Werk, das man nicht oft erleben kann.
Klaus Billand 30. September 2023
Lydia aus Mazedonien
Risto Avramoski
Skopje
Nationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien
Besuchte Vorstellung: 16. September 2023
Regie: Plamen Kartaloff
Dirigat: Ivan Eminović
Orchester: Orchester der Nationaloper & Ballett der Republik Nordmazedonien