Die Faszination, die Ariosts Versepos Orlando furioso aus dem 16. Jahrhundert auf Komponisten des Barocks und der frühen Klassik ausübte, mag der heutige Rezipient kaum nachvollziehen. Zumal die Librettisten aus dem Werk üblicherweise lediglich Figuren entlehnten, um sie in sehr freier Behandlung des Stoffes in Liebes-, Eifersuchts- und Verwechslungswirren zu stürzen. Händel schrieb gleich drei von Ariost inspirierte Opern. Zuletzt hatte man in Frankfurt vor zwei Jahren den Orlando aus dem Jahr 1732 herausgebracht, nun gibt es eine Neuproduktion der drei Jahre später entstandenen Alcina. Die Figurenkonstellation in groben Zügen: Zauberin Alcina hat den Ritter Ruggiero bezirzt und lebt mit diesem, ihrer Schwester Morgana und deren Liebhaber Oronte in einem Schloß auf einer Insel. Vormalige Liebhaber, derer sie überdrüssig war, hat sie in Tiere oder Felsen verwandelt. Ruggieros Verlobte Bradamante erscheint mit ihrem Vertrauten Melisso. Sie will Ruggiero zurückgewinnen, muß ihn dafür aber aus dem Zauberbann Alcinas befreien. Dazu verkleidet sie sich als Mann und erschleicht das Vertrauen von Morgana, die sich prompt in ihn/sie verliebt, was die Eifersucht Orontes erweckt. Auch Alcina hat ein Auge auf den neuen „Mann“ geworfen, zum Mißfallen Ruggieros. Es kommt zu falschen Liebesschwüren, vergeblichen Leidenschaften, Eifersuchtsanfällen und Rachegelüsten. Am Ende finden sich zwei Paare, Ruggiero/Bradamante und Oronte/Morgana. Alcina geht leer aus. Fragen Sie nicht nach Einzelheiten. Es ist kompliziert… .

Der Reiz für das Publikum des 18. Jahrhunderts bestand weniger in den Liebeswirren, sondern darin, daß es sich um eine „Zauberoper“ handelt. Alles auf der Insel, das Schloß inklusive, ist Illusion, heraufbeschworen von der Zauberkraft Alcinas. Das bot seinerzeit Anlaß für allerlei Bühnenspektakel. Das aktuelle Bühnenbild von Kaspar Glarner nimmt die Idee einer verzauberten, unwirklichen Welt auf und zeigt das Innere eines luxuriös ausgestatteten Salons. Daß dessen Wände gänzlich schwarz sind, ist als Farbumkehr, als Negativ-Effekt eines hellen Raumes gemeint, wie er später in Videoprojektionen als Erinnerungsbild erscheint. Die dunklen Wände und die Raumausstattung lassen aber auch das Art déco anklingen, wozu Kostüme im Stil der 1920er Jahre passen (entworfen ebenfalls von Kaspar Glarner). Videoprojektionen auf einen transparenten Vorhang und auf die Rückwände des Raumes betonen immer wieder das Unwirkliche, Traumhafte des Settings. Vor dem Orchestergraben erstreckt sich ein dunkles Sofa, welches die gesamte Bühnenbreite einnimmt und gleichsam die Grenze der Realität zu Alcinas Zauberwelt markiert.

© Monika Rittershaus
Die Regie von Johannes Erath beginnt mit dem Morgen nach einer offenbar rauschenden Party. Oronte erscheint als Diener und entsorgt auf dem Sofa zurückgelassene Kleidungsstücke in einem Müllsack. Im Hintergrund räkeln sich Ruggiero und Alcina in einem Bett. Ihre Liebe ist offenbar erkaltet. Die Zauberin ist ihres aktuellen Toy-Boys überdrüssig geworden und auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Da kommt die als Mann verkleidete Bradamante gerade recht. In Anspielung auf die in Tiere verwandelten verflossenen Liebhaber erscheinen Männer mehrerer Altersstufen in Unterwäsche auf der Bühne, manche kriechen durch Haustierklappen in den Saal. Als stumme Akteure bleiben sie fortan präsent, wirken als dienstbare Geister, später als zwielichtige Clowns. Denn all die Wunderdinge Alcinas sind Jahrmarktsattraktionen und fauler Budenzauber. Eine Palmenattrappe, die ausschaut wie eine Laubsägearbeit, wird aus dem Schnürboden herabgelassen. Der Versuch Alcinas, ein romantisches Tête-à-Tête mit Ruggiero zu arrangieren, scheitert in der dazu hereingefahrenen Wolkenkulisse. Schließlich wird der abgedroschenste aller Zaubertricks vorgeführt: das Zersägen einer Jungfrau. Hier ist es Bradamante, die daran glauben muß und unverdrossen weitersingt, wenn die Box mit ihrem vorgeblich abgetrennten Unterleib von der Box mit dem Rumpf entfernt wird.

Aber all die Tricks helfen Alcina nun nicht mehr beim Erhalt ihrer Herrschaft über diese Scheinwelt. Auch verdecken sie kaum noch die Leere der Menschen dahinter. Vor dem Aufzug zum zweiten Teil nach der Pause sieht man in einer Videoprojektion auf dem Vorhang Oronte, wie er sich als Clown einkleidet und sorgfältig die Schminke aufträgt. Michael Porter verleiht der Figur dabei in Mimik und Gestik eine abgrundtiefe Traurigkeit und brilliert dadurch als Schauspieler so sehr, wie er als Sänger den gesamten Abend mit seinem kraftvollen und doch beweglichen Tenor überzeugt. Damit ist das Thema der zweiten Hälfte gesetzt. Es ist die Melancholie hinter der Maske, die Furcht vor der Einsamkeit, von welcher der aufgesetzte Tingel-Tangel ablenken soll. Die Inszenierung findet dazu eine überraschende Schlußwendung: Nachdem sich alle Protagonisten außer Alcina auf dem Sofa am Bühnenrand versammelt und im Lieto fine ihren Schlußchor pflichtgemäß abgesungen haben, ist die verlassene und entzauberte Zauberin auf der Bühne hinter ihnen alleine zurückgeblieben. Aus Lautsprechern tönt ein Herzschlag. Dann wiederholt Alcina ihre Arie aus dem zweiten Akt „Ah! mio cor! schernito sei!“ (Ach, mein Herz, du wirst verhöhnt!), dieses Mal aber ohne Orchesterbegleitung, während allmählich die Beleuchtung heruntergedimmt wird bis zur völligen Dunkelheit. Ein bewegendes Ende.

© Monika Rittershaus
Dabei hat die Inszenierung Anlaufschwierigkeiten und kommt erst allmählich in Fahrt. Vielleicht liegt das daran, daß Eraths mit Assoziationen spielender Erzählstil hier anders als in anderen seiner Inszenierungen keine klar vorgegebene Handlung umrankt, sondern quasi auf sich selbst gestellt ist. Man findet sogar Elemente aus seinen früheren Frankfurter Arbeiten wieder, etwa die vervielfachten, surrealen Augen aus dem zweiten Aufzug der Meistersinger. Sobald man akzeptiert hat, hier keinen stringenten Handlungsverlauf präsentiert zu bekommen, auch keinen Versuch, mit der Szenenfolge des Librettos eine neue Geschichte zu erzählen, kann man die phantasievollen und humordurchwirkten Traumbilder genießen.
Der Sound, den Julia Jones mit dem fabelhaft disponierten Orchester im hochgefahrenen Graben dazu erzeugt, ist von edler Zurückhaltung, geschmackvoll, trotz Vibratolosigkeit der Streicher vorbildlich sauber intoniert. Konzertmeister Ingo de Haas und Cellist Johannes Kofler brillieren mit ausgedehnten, hochvirtuosen Soli. Gleichwohl: Ein wenig lebendiger und akzentuierter hätte das schon sein dürfen. Vom Orchester jedenfalls kommen kaum Impulse für das Treiben auf der Bühne.

Immerhin ist diese Haltung ungemein sängerfreundlich, wovon vor allem Elmar Hauser als Ruggiero profitiert. Sein Countertenor verfügt über kein großes Volumen und hat seine Stärke in einem berückenden Piano und einer reinen, glockenhellen Höhe. Er wird dabei vom Orchester auf Händen getragen. Kraftvoll orgelt dagegen Katharina Magiera mit ihrem dunkel getönten Alt durch die Koloraturen der Bradamante und ist in der Verkleidung als Mann gerade auch stimmlich überzeugend. Quirlig hell dagegen gibt Shelén Hughes die Morgana. Leider nur je eine Arie haben Clara Kim mit ihrem stupenden Koloratursopran als Oberto und Erik van Heyningen als Melisso, der einmal mehr mit seinem runden, gut fokussierten Baßbariton überzeugt und dabei auch eine kleine Gelegenheit nutzt, seine attraktive, ungefährdete Höhe zu präsentieren. Man darf auf seinen Escamillo in der Carmen-Wiederaufnahme im Dezember gespannt sein.
Daß Monika Buczkowska-Ward in der Titelpartie aus diesem sängerisch starken Ensemble herausragt, hat sie nicht zuletzt der Regie zu verdanken, welche ihr die Möglichkeit gibt, der Alcina Tiefe zu verleihen. Mit ihrem frischen Sopran war sie uns zuerst als Dorinda in Händels Orlando durch unangestrengte Geläufigkeit und ein angenehmes Timbre aufgefallen. Zweieinhalb Jahre später hat die Stimme an Reife gewonnen. Beim ersten Auftritt verbleiben noch Restbedenken, ob es hier angesichts so einschüchternder Rollenvorgängerinnen wie Joan Sutherland, Renée Fleming, Joyce Di Donato oder Magdalena Kožená bei aller technischer Perfektion nicht an Individualität fehlt. Doch je länger die Aufführung dauert, desto stärker überzeugt die junge Sängerin mit der Verbindung von darstellerischer Intensität und vokaler Gestaltung. Oper ist eben ein Gesamtkunstwerk, weswegen idealisierte Tondokumente als Vergleichsmaßstab heranzuziehen so unfair wie überflüssig ist. Der Jubel, mit dem sie am Ende gefeiert wird, ist hoch verdient.

© Monika Rittershaus
So ist dies ein Abend, der sich langsam einschwingt, dann aber immer mehr durch seine musikalische Qualität und seine zugleich phantasie- wie humorvolle Bildsprache für sich einnimmt. Geboten wird ein unerwartet tiefgründiges Vergnügen, das dem Publikum Angebote für eigene Assoziationen macht und zum Weiterdenken einlädt. In Pausen- und Nachgesprächen konnte man belauschen, wie sehr diese Produktion die Phantasie der Zuschauer angeregt hat. Was ließe sich über Kunst Besseres sagen?
Michael Demel, 16. Juni 2025
Alcina
Oper in drei Akten von Georg Friedrich Händel
Oper Frankfurt
Premiere am 15. Juni 2025
Inszenierung: Johannes Erath
Musikalische Leitung: Julia Jones
Frankfurter Opern- und Museumsorchester