Bei der Premierenkritik im Dezember 2022 mußten wir den Lesern noch empfehlen, auf Restkarten zu spekulieren, denn sämtliche Folgevorstellungen waren ausverkauft. Das hatte sich die Produktion dieser Rarität zwar redlich verdient, doch war der Verkaufserfolg bereits vor der Premiere eingetreten. Die Zuschauer hatten quasi die Katze im Sack gekauft. Man konnte hier sehen, was passiert, wenn die dem Star-Jet-Set üblicherweise entsagende Oper Frankfurt doch einmal eine der international begehrtesten Sopranistinnen engagiert. Um nämlich Asmik Grigorian einmal live zu erleben, strömte das Publikum in ein völlig unbekanntes Stück. Und bekam eine Besetzung der übrigen Hauptpartien geboten, die auf Augenhöhe mit dem Star agierte, bekam einen farbigen Orchestersound und eine spannende Inszenierung mitgeliefert. Davon kann man sich anhand der vorzüglichen Aufzeichnung auf DVD überzeugen.
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Nun wird die erste Wiederaufnahme präsentiert, und sie beginnt trotz Neubesetzung wieder mit Asmik Grigorian. Regisseur Vasily Barkhatov hatte nämlich zu der Ouvertüre das Vorleben der Titelheldin quasi mit einem Aufblättern eines Fotoalbums illustriert. Man sieht sie in auf den Bühnenvorhang projizierten Bildern bei ihrer Hochzeit mit einem offenbar neureichen Ehemann, sieht sie vereinsamt im täglichen Luxus, erfährt von einer Fehlgeburt, Ehekrisen, sieht den Gatten im Bordell, wo er schließlich an einer Überdosis Rauschgift stirbt, sieht, wie die Witwe ihr altes Leben zurückläßt und sich als bildende Künstlerin neu erfindet. Asmik Grigorian ist auch in dieser Fotostory von enormer Präsenz. Man hat Nombulelo Yende, die nun in der Titelpartie debütiert, keinen Gefallen damit getan, daß man die Kosten und Mühen gescheut hat, die Bildergeschichte mit ihr neu zu produzieren. So beginnt die Wiederaufnahme mit einem optischen Bruch. Der Vergleich der ensembleeigenen Nachwuchshoffnung mit dem Weltstar wird geradezu herausgefordert. Groß sind die Unterschiede. Gegenüber der deutlich jüngeren Kollegin verfügt die Grigorian selbstverständlich über größere Reife. Ihr Gesang ist kalkulierter, kontrollierter. Nombulelo Yende kann ihren lyrisch grundierten Sopran aber hörbar freier strömen lassen. Die Stimme fließt über alle Lagen hinweg bruchlos mit großer Selbstverständlichkeit. Zugleich besitzt sie einen faszinierenden Glutkern, ein inneres Feuer, das dem Klang Wärme verleiht. Von der satten Mittellage bis zu den lodernden Höhen hört man ihr gerne zu. Musikalisch bewältigt sie die Partie tadellos, technisch unangestrengter als ihre Rollenvorgängerin, bei der man mitunter gewisse Härten wahrnehmen konnte. Und doch paßte die reifere, nicht mehr jugendlich-selbstverständlich dahinströmende Stimme der Grigorian besser zu der Inszenierung, die ihr schließlich auf den Leib geschneidert wurde. Die in der Fotogeschichte gezeigten Brüche, die Verwundungen, das alles konnte die Grigorian habituell wie stimmlich beglaubigen. Bei Nombulelo Yende dagegen erlebt man eine selbstbewußte junge Frau, die sich eben noch nicht gegenüber Schicksalsschlägen behaupten, nicht aus den Trümmern einer alten Existenz heraus wiedererstehen mußte. Sie ist optisch und stimmlich eine völlig andere Person als jene, welche uns die Ouvertüre präsentiert. Unnötigerweise wird hier eine beachtliche künstlerische Leistung mit der Hypothek eines unfairen Vergleichs belastet. So dauert es eine Weile, bis man sich ganz auf Yende einstellt, das neue Rollenprofil akzeptiert.
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An ihrer Seite wiederholt Iain MacNeil seine sensationelle Leistung als Fürst, beeindruckt mit dem kernig-virilen Timbre seines Baritons, den satten Höhen, um die ihn mancher Tenor beneiden dürfte. Neu in dieser Inszenierung, aber rollenerfahren ist Elena Manistina in der Partie der Fürstin, die nach einer Aufwärmzeit zu Beginn mit ihrem üppigen Mezzo zu großer Form aufläuft. Gerard Schneider debütiert als Fürstensohn Juri. Von seinem Rollenvorgänger unterscheidet ihn eine ausgewogenere, klangsattere Mittellage. Die Höhen bewältigt er mit geschickter Beimischung eines hohen Kopfstimmenanteils. Daß er damit auf stählerne Spinto-Kraftmeierei verzichtet, ist klug. Noch vor einigen Jahren war Schneider kurz davor, sich mit gestemmten Brusttönen in der Höhe seine angenehm timbrierte Stimme dauerhaft zu ruinieren. Als Gast debütiert Mikhail Biryukov in der Doppelpartie als Mamyrow und Kudma. Er macht seine Sache als Bösewicht darstellerisch überzeugend und stimmlich ordentlich. Im Vergleich zu seinem Rollenvorgänger Frederic Jost ist sein Baß rauer, zugleich fehlt es ihm an Josts Sonorität in der Tiefe und Schwärze.
Die zahlreichen kleineren Partien sind wie stets vorzüglich mit hauseigenen Kräften besetzt, wobei neben Kudaibergen Albidin als Lukasch, der in Folgevorstellungen mit Gerard Schneider als Juri alternieren wird, insbesondere die ehemaligen Mitglieder des Ensembles bzw. Opernstudios Jonathan Abernethy als Balakin mit frischem Tenor und Pilgoo Kang mit markantem Bariton als Potap hervorzuheben sind.
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Wie schon in der Premiere entfaltet Valentin Uryupin mit dem gut aufgelegten Orchester den großen Farbenreichtum der Partitur. Die Inszenierung von Vasily Barkhatov überzeugt auch beim Wiedersehen. Er verlegt die Handlung in die Gegenwart. Daß dabei keine platte Aktualisierung und wohlfeile Politisierung herauskommt, sondern der Kern des Werkes freigelegt wird, zeigt die Meisterschaft des jungen Regisseurs. Im zweiten Akt etwa wird das Geschehen immer wieder filmschnittartig mit Momentaufnahmen kontrastiert, für die der Regisseur hinter blitzschnell fallendem und sich sogleich wieder öffnendem Vorhang mit der Frankfurter Drehbühne Szenenwechsel arrangiert. Selbst da, wo Barkhatov in seiner Aktualisierung Figuren umdeutet, geschieht das derart zwingend, daß es ohne Kenntnis des Originals gar nicht auffallen würde. So wird die Figur des Marmyrow vom Schreiber des Fürsten zum orthodoxen Priester umgedeutet und wesentlich aufgewertet. An dieser Figur demonstriert die Regie den unheilvollen Einfluß einer reaktionär erstarrten religiösen Orthodoxie auf Staat und Gesellschaft.
Großen Eindruck macht wieder das Bühnenbild von Christian Schmidt, das vom Kontrast zweier Räume lebt. Die Gaststätte der Titelfigur zeigt er als stylische Galerie mit Wänden aus Sichtbeton. Dem wird die Oligarchen-Villa des Fürsten mit Säulen und protzig-edlem Mobiliar gegenübergestellt. Ausstattungsdetails charakterisieren die Geisteshaltung der jeweiligen Bewohner, so eine überlebensgroße Wolfsskulptur in der Galerie, welche man mit Wildheit und Unangepaßtheit assoziieren kann, und eine Vitrine mit Ikonen in der Fürstenwohnung als Symbol traditionalistischer Religiosität. So wie die Galerie die Sphäre der „Zauberin“ ist, ist der religiös imprägnierte Oligarchen-Schick die Sphäre der Fürsten. Durch die geschickte Gegenschnitttechnik der Regie erlebt der Zuschauer die mittleren beiden Akte als Fernduell zweier starker Frauen. Die beiden männlichen Protagonisten, der Fürst und sein Sohn, sind zwischen beiden Sphären hin- und hergerissen. Für den vierten und letzten Akt hat der Regisseur sich vorgenommen, die bis dahin gezeigte Welt „durch einen dunklen Spiegel“ zu sehen. Das gelingt ihm, indem er die beiden bis dahin streng getrennten Sphären auflöst, Einrichtungsgegenstände der Galerie auf einmal in der Oligarchen-Villa auftauchen und umgekehrt, und die beiden Räume auf der Bühne nun als Kulissen kenntlich gemacht werden, zwischen denen die Protagonisten umherirren. Lichtregie (Olaf Winter) und Projektionen (Videos von Christian Borchers) erzeugen eine surreale Atmosphäre, in der die szenischen Ereignisse im Einklang mit der Musik bis zum Siedepunkt getrieben werden und der Gewaltexzeß am Schluß in seinem überhitzten Irrsinn etwas Zwangsläufiges erhält.
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© Barbara Aumüller
Mit der spannenden und kontrastreichen Inszenierung von Vasily Barkhatov und einer musikalisch exzellenten Besetzung erweist das Stück erneut seine Publikumswirksamkeit. Man braucht dazu in der Titelpartie keinen Weltstar als Zugpferd. Denn mit Nombulelo Yende und Iain MacNeil in den Hauptrollen hat man die Stars von Morgen im eigenen Ensemble.
Michael Demel, 11. Februar 2025
Die Zauberin
Peter Tschaikowsky
Oper Frankfurt
Bericht von der Wiederaufnahme am 7. Februar 2025
Premiere am 4. Dezember 2022
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Musikalische Leitung: Valentin Uryupin
Frankfurter Opern- und Museumsorchester