Frankfurt: „Hercules“, Georg Friedrich Händel

„Wenn Händel das Stück seinerzeit szenisch gegeben hätte, wäre es kein Mißerfolg geworden“, gibt sich der Sitznachbar zu Beginn der Pause überzeugt. Dieser Eindruck beruht ganz wesentlich auf der handwerklichen Brillanz von Barrie Kosky. Der Regisseur reiht international Regieerfolg an Regieerfolg und würde vermutlich auch noch aus dem örtlichen Telefonbuch einen interessanten Theaterabend machen. Aber so, wie bei der aktuellen Frankfurter Premiere ein raffiniert schlichter Bühnenraum durch darstellerisch brillante Solisten und einen präzise und abwechslungsreich geführten Chor mit emotionaler Spannung angefüllt wird, die sich immer wieder eruptiv entlädt, kann man es auch bei Kosky nicht immer in dieser Intensität erleben. Das Oratorium Hercules erscheint hier tatsächlich als das vom Komponisten annoncierte „New Musical Drama“, eine Abkehr von der auch von Händel zur Blüte gebrachten Barockoper mit ihrem starren Wechsel von handlungstreibenden Rezitativen und reflektierenden, zu virtuosen Schaustücken ausgebauten Arien. Das Libretto formt mit einigem an Shakespeare geschulten Geschick Motive aus dem antiken Drama „Die Trachinierinnen“ des Sophokles zu einer geradezu modern anmutenden Studie über psychische Grenzzustände um.

Michael Porter (Hyllus), Paula Murrihy (Dejanira) und Kelsey Lauritano (Lichas) / © Monika Rittershaus

Im Mittelpunkt steht nicht der titelgebende Halbgott, sondern dessen Gattin Dejanira, die der Zuschauer zu Beginn in banger Erwartung des in einen Krieg gezogenen Helden, sodann in überschwänglicher Freude über dessen Rückkehr und gleich darauf in rasender Eifersucht und schnippischer Aggression gegen den Gatten erlebt. Zur mimischen und musikalischen Beglaubigung dieses Wechselbads der Gefühle ist Paula Murrihy die perfekte Besetzung. Wie die irische Mezzosopranistin das Porträt einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs formt, ist geradezu atemberaubend. Ihre darstellerische Exzellenz kommt mit einer musikalischen Gestaltungskraft zusammen, welche auf der Basis einer edel-herb timbrierten Stimme selbst in technisch unangreifbar ausgeführten Auszierungen und Koloraturen den Text expressiv umsetzt, ohne musikalische Kompromisse einzugehen. Wenn man das erleben durfte, dann weiß man, warum Barrie Kosky als eines der Motive für die Annahme dieses Regieauftrags die Zusammenarbeit mit Paula Murrihy angibt.

Paula Murrihy (Dejanira; links mit gestreifter Bluse) und Chor der Oper Frankfurt / © Monika Rittershaus

Händel hat dem Titelhelden demgegenüber nur wenige Auftritte gegönnt. Das Produktionsteam läßt ihn aber die gesamte Aufführung über als Marmorstatue präsent sein. Im ersten Aufzug sitzt diese Statue wie eine ironische Erinnerung an den abwesenden Gatten in der Pose von Rodins „Denker“ auf einem fliederfarbenen Sofa neben Dejanira. Der zweite Teil nach der Pause präsentiert dann eine klassische Herkules-Statue mit Keule vor einem Wolkenhimmel, so als habe Jupiter seinen Sohn bereits in den Olymp erhoben. Den realen Hercules gibt Anthony Robin Schneider im Kontrast dazu als emotional und intellektuell schlichten Kraftmenschen. Mit seiner imposanten Erscheinung und seinem sonoren Baß hätte man niemand Besseren für diese Partie casten können. Perfekt gecastet erscheint auch Elena Villalón als Kriegsgefangene Iole, die der Ausgangspunkt von Dejaniras wahnhafter Eifersucht ist. Die junge Sängerin debütiert als neues Ensemblemitglied an der Frankfurter Oper und bezaubert das Publikum mit ihrem glockenreinen Sopran. Der in dieser Saison im Haus am Main vielbeschäftigte Michael Porter darf sie als Hercules‘ verklemmter Sohn Hyllus mit seinem saftigen Tenor anschmachten. Erik van Heyningen schließlich rundet die Riege der exzellenten Solisten als Priester des Jupiter mit seinem kernigen Baßbariton ab.

© Monika Rittershaus

Eine herausgehobene Rolle spielt der Chor, der teils als Volksmenge, teils als Kommentator in der Tradition griechischer Dramen auftritt. Barrie Kosky macht ihn zum kollektiven weiteren Hauptdarsteller. Als Volksmenge agieren die über die Kostüme von Katrin Lea Tag individualisierten Chorsänger auf Augenhöhe mit den Solisten, als kommentierendes Schwarmwesen bewegen sie sich jedoch in stilisierten Choreographien mit synchronen Bewegungen. Das Heraustreten aus der Handlung wird dann durch die Lichtregie von Joachim Klein mit Schatteneffekten und Lichtreflexen unterstrichen, während ansonsten der aus hellem Holz gezimmerte Bühnenkasten (ebenfalls von Katrin Lea Tag) nüchtern ausgeleuchtet ist. Den großen darstellerischen Anforderungen der Regie werden die Chorsänger glänzend gerecht und beeindrucken dabei mit einem vollen und doch gut durchhörbaren Klang.

Barrie Kosky entfesselt aber nicht nur die darstellerischen Fähigkeiten seiner Sänger und schlägt Funken aus der Handlung. Er interpretiert und modifiziert auch die Vorgaben des Librettos, und das so plausibel, daß es mitunter überhaupt nicht auffällt. Die Figur des Lichas etwa ist im Original ein Herold. Händel hat sie aber mit mehreren Arien ausgestattet und so mit einem Gewicht versehen, die einer Dienergestalt nicht zukommt. Kosky nimmt dieses Gewicht jedoch auf, macht den Lichas, der für eine Altstimme gesetzt ist, zur jüngeren Schwester des Hercules und fügt die Rolle so ohne Brüche in die Familienkonstellation um Hercules und Dejanira ein. Kelsey Lauritano läßt in dieser für sie recht tief liegenden Partie mit burschikoser Geradlinigkeit den Ursprung als Hosenrolle aufscheinen. Eine weitere und gravierendere Umdeutung nimmt Kosky beim tragischen Tod des Hercules vor. Im Libretto läßt Dejanira ihrem Gatten ein Gewand überreichen, von dem sie glaubt, es besitze die magische Kraft, seine Liebe zu ihr neu zu entfachen. Tatsächlich ist es mit Gift getränkt, welches Hercules bei lebendigem Leibe verbrennt. Kosky legt nahe, daß Dejanira mit einer unheilvollen Wirkung der Textilie zumindest rechnet: Sie faßt das Gewand nur mit der Zange an und vermeidet geflissentlich jeden Hautkontakt. Der Sinn ihres Geschenks an den Gatten wird dadurch ein anderer: Hercules soll für seine vermeintliche Untreue bestraft werden. Diese Modifikation paßt besser zu der zuvor musikalisch ausgemalten Eifersuchtsraserei Dejaniras.

Hercules (Anthony Robin Schneider) in Todesqualen / © Monika Rittershaus

Das Bühnengeschehen wird aus dem Orchestergraben heraus ideal unterstützt. Die Frankfurter Musiker sind Experten in historisch informierter Aufführungspraxis und stehen Spezialensembles in nichts nach. Vibratoarme Tongebung der Streicher und eine sprechende Phrasierung sind selbstverständlich. Der Händelspezialist Laurence Cummings am Pult kann also aus dem Vollen schöpfen.

Ein faszinierender Tamerlano im vergangenen Winter, ein eleganter Orlando im Frühjahr, demnächst noch die Wiederaufnahme des pfiffig inszenierten Xerxes und nun ein herausragender Hercules, von dem sich bereits jetzt sagen läßt, daß er einer der Höhepunkte der Saison ist: Frankfurt mausert sich zur Händel-Hauptstadt.

Michael Demel, 4. Mai 2023


Georg Friedrich Händel: Hercules

Oper Frankfurt

Premiere am 30. April 2023

Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Laurence Cummings
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer

Weitere Aufführungen: 6., 14., 18. 21. und 26. Mai 2023