Köln: „Luisa Miller“, Giuseppe Verdi

Es sind die sanften, grünen Hügel, die sonnensatte Luft und das strahlende Blau des sommerlichen Himmels, die eine Landpartie nach Glyndebourne so attraktiv machen. Zwei Stunden von London entfernt liegt das ehemalige Landhaus, auf dessen Grundstück 1933 ein kleines Opernhaus mit 300 Sitzplätzen gebaut wurde. Im Folgejahr eröffnet, entwickelte sich die Glyndebourne Festival Opera binnen kurzem zu einer der bedeutendsten kleinen Opernbühnen der Welt. Ursprünglich als Aufführungsort des Opernrepertoires Mozarts gedacht, kamen mit der Zeit weitere Aufführungsschwerpunkte hinzu (z. B. in den 1970er Jahren die Barockoper). Nach zahlreichen Um- und Neubauten ist die Sitzkapazität inzwischen auf 1200 Plätze angestiegen. Im Sommer ist das Festival ein beliebter Anziehungspunkt für Opernfreunde, die die langen Aufführungspausen (die längste anderthalb Stunden) traditionell dazu nutzen, ein Picknick im Park zu veranstalten. Gepicknickt wird auf hohem Niveau in Abendgarderobe (Smoking/Dinner-Jacket) und mit ausgesuchtem Menü. Das neue Foyer ist so konzipiert, dass es sich zum Garten hin öffnet, in dem traditionell die Picknicks stattfinden.

(c) Thomas Aurin

Für dieses Idyll scheint es also mehr als angemessen zu sein, Verdis Oper “Luisa Miller“, eine Oper aus seiner mittleren Schaffensperiode, aus dem Tiroler Dorf der Handlung in die hügeligen South Downs zu verlegen. Verschiedene Quellen geben die Zeit der Handlung unterschiedlich an. Mal ist von der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert die Rede, an anderer Stelle wird das frühe 18. Jahrhundert benannt. Einigkeit besteht wiederum dabei, dass die erste Szene des 1. Akt in einem anmutigen Dörfchen spielt, wo die Dorfbewohner Luisa ein Geburtstagsständchen bringen. Es war Giuseppe Verdis dritte Vertonung eines Dramas von Schiller nach Giovanna d‘Arco (nach Die Jungfrau von Orleans 1845) und I masnadieri (nach Die Räuber), später folgte noch Don Carlos. Die Handlung der Oper, die locker auf dem bürgerliche Trauerstück Kabale und Liebe basiert, kann als bekannt vorausgesetzt werden: Luisa Miller, ein Mädchen vom Lande, das ihr Glück in der Liebe nicht findet, wird nach verschiedenen Querelen schließlich das Opfer eines Mitnahmesuizides, dem sie jedoch mit offenen Armen entgegengeht, da sie bereits eingesehen hat, dass es für sie keinen Platz auf dieser Erde geben wird, an dem sie glücklich leben kann.

Schiller hatte sein Stück ausnahmslos in geschlossenen Räumen spielen lassen, jedoch verlegen Giuseppe Verdi und sein Librettist Salvatore Cammarano einige Szenen ins Freie, um die verschiedenen Chöre unterbringen zu können. In der Einführungsveranstaltung zur Premiere referiert der Chefdramaturg der Kölner Oper Stephan Steinmetz sowohl unkonzentriert, als auch uninspiriert über die Entstehungsgeschichte und den Inhalt der Oper. Über die Inszenierung, die die Oper Köln aus Glyndebourne übernommen hat, verliert er kein Wort. Ob er sie schon einmal gesehen hat? Die Premiere hat er sich dann jedenfalls angesehen, so dass seine zukünftigen Einführungen möglicherweise etwas lebhafter und kundiger ausfallen.

(c) Thomas Aurin

Und diese Inszenierung hat es in sich: Kein Geringerer als Christof Loy, ein deutscher, in Essen geborener Regisseur, der zu den international gefragtesten Opern- und Schauspielregisseuren seiner Generation zählt, hat sich dieser Herausforderung 2021 unter Covid-Bedingungen gestellt. Und diese Oper wurde von ihm vorbildlich klar inszeniert. Loy benutzt einen minimalistischen weißen Bühnenraum, ein White-Box-Set in Einheitsgröße: eine Dominanz von Schwarz und Weiß, eine durchbrochene Wand, scharf geätzte Schatten. Er verlegt die Handlung erneut in den Innenraum zurück, die Chöre begleiten die Handlung Corona-bedingt aus der Ferne. Eine Handvoll stiller Schauspieler als Dienstmädchen und Dorfbewohner. Die Handelnden halten Abstand, auch wenn man sich vereinzelt mehr Nähe und Umarmung gewünscht hätte. Am Ende trinken die Hauptakteure jedoch aus demselben Glas (Corona hin oder her), sonst würde der Plot nicht mehr funktionieren.

Christof Loy, der seine Regie von Österreich aus führte, und die konkrete Einstudierung an seinen stellvertretenden Regisseur Georg Zlabinger in Glyndebourne übergeben hatte, legt seinen Fokus auf die Beziehung der Charaktere, anstatt auf visuelle Exzesse. Sänger und Schauspieler tragen fast ausnahmslos monochrome Anzüge.

Vor Beginn eines jeden der drei Akte wird ein kurzer Brief vorgelesen. Im ersten berichtet Miller drüber, dass er sehr wohl wisse, dass seine Tochter zu niedrig für eine adelige Hochzeit sei; als Spielzeug sei sie ihm jedoch zu kostbar. Im zweiten schreibt Federica, dass wenn ihr die Süße der Liebe vorenthalten werde, sie sich wenigstens an der Süße ihrer Rache laben wolle. Im dritten berichtet Luisa von ihren suizidalen Absichten, da sie bereits jetzt die Hoffnung auf eine positive Zukunft aufgegeben hat.

Mit Roberto Rizzi Brignoli steht ein Fachmann für italienische Oper am Pult des Gürzenich-Orchesters. Er dirigiert die Ouvertüre (ein Mini-Klarinettenkonzert begleitet von einer thematisch-motivischer Arbeit mit einem Motiv, das man als Schicksals- oder auch Intrigenmotiv bezeichnen kann) wie den weiteren Abend mit großer Sicherheit, wenn er auch mit den akustischen Unzulänglichkeiten des Staatenhauses zu kämpfen hat. Parallel zur Ouvertüre eine Bühnenhandlung, die die Männerwelt und Wurms Heiratsantrag bei Miller zeigen.

Als die Gratulanten die Bühne betreten und die am Boden liegende Luisa mit Blumen bedecken, entsteht der Eindruck, als stünden sie bereits am Katafalk. Die winkelig nach hinten gezogene fensterlose Bühne hat nur an der Rückseite eine Türe. Im zweiten Akt wird ein rechtsseitig hinzugefügter weißer Erker die Welt des Schlosses symbolisieren. Ein großes, quadratisches Schwarz wird im dritten Akt dort zu sehen sei. Keine Fluchtmöglichkeit – ein Entkommen gibt es nicht – eher der Durchgang zu ewigen Welt des Todes.

(c) Thomas Aurin

Um eine derart radikal reduzierte Inszenierung zum Leuchten zu bringen, bedarf es der besten Stimmen, die der düsteren Handlung Leben und Gefühle verleihen: Dario Russo als Conte di Walter, Olafur Sigurdarson als Miller und Krzysztof Baczyk als Wurm waren die drei Bässe, welche die für diese Oper charakteristischen dunklen Stimmen zum Leben erweckt haben. Dabei geht mein besonderes Lob an Krzysztof Baczyk, der mit Abstand der schleimigste Wurm war, den ich jemals in diesem Stück gesehen habe. Rodrigo Porras Garulo strahlte im Tenorpart des Rodolfo. Luisa wurden von Mané Galoyan (Sopran) und Federica von Adriana Bastidas-Gamboa (Alt) gesungen. Die kleinen Rollen von Laura und Un campagno die Rodolfo wurden von Maria Koroleva und Michail Kapadoukakis verkörpert. Ein wunderbares Verdi-Ensemble, auf das die Kölner Oper stolz sein kann und welches in dieser stimmhomogenen Geschlossenheit nicht nur im Umfeld von NRW seines Gleichen suchen kann.

Das Duett der beiden Bässe Il conte di Walter und Wurm im zweiten Akt wird von diabolischen Schattenspielen begleitet; das etwas später im zweiten Akt gesungene A-capella-Quartett – für die Entstehungszeit ganz außergewöhnlich – berührte zutiefst.

Diese bereits von Presse und Publikum in Glyndebourne hochgeschätzte Produktion wurde vom Kölner Premierenpublikum immer wieder mit größtem Applaus und Jubel bedacht. So gegensätzlich diese fast steril wirkende Inszenierung in England bezogen auf ihr Umfeld auch gewirkt haben mag, in der Schlichtheit aus Stahl und Stein im Kölner Staatenhaus scheint die Produktion ihre neue Heimat gefunden zu haben. Inszenierung und Aufführungsort scheinen miteinander zu verschmelzen. Als am Ende aller Erpressungen die Wahrheit ans Licht kommt, haben die beiden Liebenden bereits vergiftetes Wasser getrunken. Rodolfo hat Wurm in dieser Inszenierung zwar nicht erstochen, aber er hat ihm einen Dolch zugeworfen und ihn damit aufgefordert, die Tat selbst zu begehen. Wurm gehorcht.

Eine überzeugende, kraftvolle Aufführung, die lange im Gedächtnis bleiben wird. Tosender, nicht endender Applaus aus dem ausverkauften Haus für alle Beteiligten. Ovationen und Jubel. Wer immer die Möglichkeit hat, sollte sich diese Aufführung eines nicht zu häufig gespielten Werkes Verdis nicht entgehen lassen.

Ingo Hamacher, 7. März 2023


Luisa Miller

Giuseppe Verdi

Oper Köln

Übernahme aus Glyndebourne

4. März 2023

Regie: Christof Loy, Georg Zlabiner

Dirigat: Roberto Rizzi Brignoli

Gürzenich-Orchester Köln

Weitere Termine: 10., 12., 15., 17., 19., 24., 26. und 30. März sowie 1. April 2023