am 2. Mai 2018
Große Sängerleistungen und alte Wagner-Tradition am Mittelmeerhafen
Marseille eine Wagner-Stadt? Sicher nicht zu Wagners Zeiten, denn Richard Wagner kannte, liebte und hasste nur Paris – und Bordeaux, wohin er in plötzlich entflammter Liebe zur jungen Gattin eines reichen Gönners aufbrach und woher er missmutig zurückkehrte. In Marseille ist er nie gewesen – aber dafür seine Enkel mit ihren Bayreuther Inszenierungen und großen Sängern wie Hans Hotter und Martha Mödel. Denn in Marseille liebt man seit Menschengedenken große Stimmen und gibt es – wie in Barcelona und Toulouse – eine richtige Wagner-Tradition. „Tannhäuser“ wurde hier schon 1896 aufgeführt, „Parsifal“ 1914 und „Lohengrin“ 1892 – gleich nach Paris, wo die erste konzertante Aufführung 1887 wegen Krawallen und Anti-Wagner Demonstrationen abgebrochen werden musste. Die szenische Uraufführung von „Lohengrin“ in Frankerich erfolgte erst vier Jahre später in Rouen, wo es vom 5. Februar bis zum 30. April 1891 ganze 27 Vorstellungen in gleicher Besetzung gab (heute völlig undenkbar). Nach Angers, Nantes, Lyon, Bordeaux und Toulouse – anscheinend immer noch in (fast) gleicher Besetzung ! – erfolgte erst am 16. September 1891 die Erstaufführung an der Pariser Oper. Und im Jahr darauf in Marseille, wo „Lohengrin“ zum letzten Mal im Dezember 1983 gespielt wurde.
25 Jahre später kehrt der Gralsritter mit seinem Schwanen-Nachen an das praktischer Weise direkt am Hafen gelegene Opernhaus zurück – mit einer internationalen Besetzung, die wieder einmal unter Beweis stellt, was für Ansprüche man in Marseille an Wagnersänger stellt – und einlöst. Bei einem solch hochkarätigen Cast kann man sich nur wundern über die mittelmäßige Inszenierung von Louis Désiré und die stümperhafte Ausstattung von Diego Mendez Casariego – doch auch das hat in Marseille Tradition. Denn die Inszenierung wurde koproduziert mit der Oper in Saint Etienne (wo sie letztes Jahr zu sehen war) und ist so angelegt, dass man sie an beliebig anderen Opernhäusern ohne viel Proben wieder aufnehmen kann. Im Programmheft erzählt der Regisseur, dass er „als Südländer keine besondere Affinität zu den Opern Wagners hat finden können – außer zu „Lohengrin“, seiner meist italienischen Oper“. Doch diese „italianità“ wird szenisch recht armselig übersetzt mit Belcanto-Rampentheater, wo die Sänger Bühnenmittig ihre Ariern abliefern, ohne sich dabei anzuschauen. Désirés einzige originelle Idee ist das Einfügen von Elsas verschwundenem Bruder Gottfried in der Gestalt eines Pantomimen (Massimo Riggi, mit viel Engagement), der von der Ouvertüre an durch das Geschehen geistert, aber (leider) nie einen richtigen Platz bekommt. Es wäre z.B. stimmig und interessant gewesen zu inszenieren, dass nur Elsa ihn sieht – aber sie verbringt den ganzen Abend als Schwärmerin mit einem Buch in der Hand – womit angedeutet wird, dass Lohengrin nur in ihren Träumen besteht.
Schon ab dem ersten Einsatz des Heerrufers hört man, dass es sängerisch ein großer Abend werden wird. Adrian Eröd (im Ensemble der Wiener Staatsoper) kündigt stets souverän einen großen König an. Samuel Youn (der die Rolle schon in Bayreuth gesungen hat) erreicht mit seinem sonoren Bass mühelos die 1.700 Plätze des großen Opernhauses und gibt dem König Heinrich der Vogeler nicht nur Autorität, sondern auch Wärme und Menschlichkeit. Neben ihm hat es Thomas Gazheli als Telramund nicht leicht. Er ist zwar szenisch ein guter Gegenspieler mit einer perfekten Artikulation (er hat die Rolle schon an vielen großen Häusern gesungen), doch er ließ sich an diesem Premierenabend als indisponiert ansagen – was man auch hörte (wir haben ihn noch ganz anders in Erinnerung als Alberich und Wanderer in Erl). Das war besonders bedauernswert, denn Petra Lang war als Ortrud die strahlendste Stimme des Abends und musste nun in den Duos Rücksicht auf ihren indisponierten Gatten nehmen. Das hinderte sie aber nicht daran, als einzige auf der Bühne ein wirkliches Rollenprofil aufzubauen (das sie offensichtlich schon mit anderen Regisseuren anderswo aufgebaut hatte). Petra Lang war als Ortrud für uns die Sensation des Abends: dunkel und böse im Mezzo (sie singt Brangäne), mühelos und leuchtend im Sopran (sie singt nun auch Brünnhilde und Isolde) in dieser durch Wagner recht ambivalent angelegten Rolle. Da hatte es Barbara Haveman als Elsa viel schwieriger. Stimmlich ist sie eine gereifte Frau und überzeugte uns musikalisch viel mehr als die „jungen Mädchen“ die wir in den letzten Jahren als Elsa an der Opéra de Paris gehört haben. Doch sowohl vom Regisseur als auch vom Dirigenten im Stich gelassen, blieb sie an diesem Abend weit unter ihren vielen Rollen an der Wiener Staatsoper. Alle Aufmerksamkeit ging auf das szenische Rollendebüt des in Wien geborenen/bekannten Norbert Ernst (der Lohengrin 2016 schon konzertant in Montpellier gesungen hat). Seine Gralserzählung war wunderbar elegant phrasiert und mühelos gesungen, aber von einem Rollenprofil war er – zumindest in der Premiere – noch weit entfernt. Niemand wurde über Nacht ein Lohengrin.
Die alte Wagner-Tradition in Marseille hört man dem Orchester der Oper sofort an: ein großes Lob für die Bläser, vor allem die sehr exponierten Trompeten, die nicht das geringste Problem mit der Partitur hatten. Bei den Streichern gab es leider schon im Vorspiel ein paar wackelige Einsätze und Intonationsprobleme, die wir in Marseille gar nicht gewohnt sind. Doch das gab sich zum Glück im Lauf des Abends, als die großen Chorszenen zum musikalischen Höhepunkt avancierten. Vor allem der durch Emmanuel Trenque geleitete Männerchor beeindruckte durch seine Homogenität – auch mit 40 Mann – und seinen ganz wunderbaren Bassstimmen. Paolo Arrivabene, zehn Jahre lang Chef-Dirigent in Lüttich, kennt sein Metier aus dem ff (er dirigierte 2014 einen eindrucksvollen „Moïse et Pharaon“ von Rossini in Marseille), doch auch er scheint, wie der Regisseur (als Südländer?) keine besondere Affinität zu Wagner zu haben. Die Ouvertüre misslang, er spannte keine großen Bögen und wusste nicht wie die verschiedenen Leitmotive voneinander abzusetzen und dann wieder zu verweben waren. Er suchte Effekte und präsentierte keine eigene Interpretation für diese – bei anderen Dirigenten – schon fast mystische Musik.
Das Publikum hustete viel, aber hörte doch genau zu und beim Schlussapplaus kamen der Chor und Petra Lang ganz deutlich an erster Stelle, gefolgt durch Samuel Youn (der 2014 einen fantastischen Holländer in Marseille gesungen hat). Alles in allem eine beeindruckende Sängerleistung und wir freuen uns schon auf den nächsten Wagner in Marseille. Welches Werk es sein wird, wird noch nicht bekannt gegeben – vielleicht „Tristan und Isolde“, die auch schon seit über 20 Jahren nicht mehr am Mittelmeerhafen gespielt wurde? Wir sind gespannt!
Waldemar Kamer 5.5.2018
Bilder (c) Christian Dresse