Lieber Opernfreund-Freund,
bevor Gioachino Rossini sich, von ein paar kurzen, von ihm selbst als „Alterssünden“ (Peches de vieillesse) bezeichneten Klavierstücken abgesehen, ganz auf den Genuss von Gaumenfreuden verlegte, präsentierte der damals erst 37jährige Meister aus Pesaro dem Pariser Opernpublikum 1829 noch die Grand Opéra Guillaume Tell. Dieses Werk hat sich jedoch, bis auf seine Ouvertüre mit ihrem furiosen Finale und die Sopranarie Sombre foret, nie wirklich im Opern- und Konzertrepertoire verankern können. In Deutschland gab es einschlägigen Quellen nach zuletzt 2017 eine halbszenische Produktion in Hannover und ein Jahr davor zeigte die Staatsoper Hamburg das auf dem Schiller‘schen Tell-Drama basierende Werk. Umso löblicher ist es, dass die Opera Royal de Wallonie-Liège es seit gestern auf die Bühne bringt.

Von den gut vier Stunden Musik ist fast ein Viertel sinnvollen Strichen zum Opfer gefallen – und doch weist die melodienreiche Partitur mitunter noch Längen auf. Hier hätte es also einer lebendigen Regie bedurft, die musikalisch weniger spannende Passagen mit Leben füllt. Leider ist das jedoch dem Regisseur Jean-Louis Grinda, bis 2022 Chef der Opéra de Monte-Carlo, nicht gelungen. Das liegt zum einen am öden Bühnenbild, das an einen Heustadl erinnert, dessen Rückwand sich dann und wann teilweise oder ganz öffnet und den Blick auf Prospekte mit Vierwaldstättersee oder dem in besagter Arie besungenen dunklen Wald freigibt. Das trägt keinesfalls für gut drei Stunden Musiktheater – auch wenn Bühnenbildner Eric Chevalier im vorletzten Bild ein riesiges Kruzifix über die Szene hängt. Hinzu kommt die wenig überzeugende Personenführung. Guillaume Tell ist eine ausgesprochene Choroper, der oft in mehreren Gruppen aufzutreten hat. Das böte eigentlich die Chance zu einer belebten Szenerie, die Grinda jedoch kaum nutzt. Stattdessen erschöpfen sich seine Einfälle auf Rampensingen par excellence und Choraufstellungen in Gruppenbildmanier, sofern er die Damen und Herren nicht in dümmlichen Polonaisen über die Bühne kreisen lässt. Da helfen weder die feinen Choreografien von Eugénie Andrin noch das teils höchst stimmungsvoll ausgetüftelte Licht von Laurent Castaingt. Und auch die an sich schönen Kostüme Françoise Raybaud passen weder in die Zeit der Handlung Anfang des 14. Jahrhunderts, noch in die der Entstehung von Drama (1804) oder Oper (1829), sondern erwecken den Eindruck, jemand habe einmal „Habsburger“ gegoogelt und ein Foto von Sisi im schwarzen Reiterkleid mit weißem Chiffon am Hut gefunden.

Musikalischer Star des Abends ist sicher der von Denis Segond betreute Chor, der wirklich viel zu tun hat. Hier singen die Herren eine Spur präziser als die Damen, schaffen Stimmung oder zeigen sich aktiv als kämpferisch aufgelegte Bauern. Überhaupt sind es gestern vor allem die Männer, die mich vollends überzeugen. Zwar ist Emanuela Pascu eine seelenvolle Hedwige mit warmem Mezzo und Elena Galitskaya gestaltet den Jemmy (der mit dem Apfel auf dem Kopf) mit frischem, farbenreichem Sopran voller Esprit. Auch Salome Jicia gelingt die Auftrittsarie noch bravourös, doch schon im anschließenden Duett hat sie hörbare Schwierigkeiten in der Höhe. Diese legen sich glücklicherweise in der zweiten Hälfte des Abends, doch die satte Mittellage bleibt die Stärke der Georgierin.

In allen Lagen überzeugen kann mich hingegen der US-amerikanische Tenor John Osborn in der Rolle des Arnold Melchtal. Nicht erst zu seiner großen Arie im letzten Akt „Asile héréditaire“ zieht er alle Register und paart feines Timbre mit Höhensicherheit, Facettenreichtum und einer gehörigen Portion Gefühl. Dass es im Tell um Freiheit geht, zeigt Jean-Louis Grinda mit einem Liberté-Schriftzug und roten Handschuhen bei den Schweizern, der Sizilianer Nicola Alaimo als Titelheld benutzt dazu seinen den Saal bis in die letzte Ecke durchdringenden Bariton, der energiegeladen und kampfeslustig daherkommt. Aus der Riege der kleineren Rollen bleiben mir vor allem der kraftvolle Bass von Inho Jeong als Gessler und der den Abend in perfekter Klangschönheit eröffnende Tenor von Nico Darmanin als Ruodi im Ohr.

Im Pult feuert Stefano Montanari die Musikerinnen und Musiker zu Höchstleistungen an, spinnt von der 12-minütigen Ouvertüre, von der Teile den Einzug in die Welt der Filmmusik von „Clockwork Orange“ bis Mickey Mouse geschafft haben, über klanggewaltige Chorszenen bis hin zu gefühlvollen Momenten und dem Freiheit verheißenden, fast hymnischen Finale einen weiten Klangbogen und zeigt, was in Rossinis letzter großer Partitur steckt. Das Publikum im ausverkauften Haus ist am Ende des Abends – es geht auf Mitternacht zu – zufrieden und applaudiert begeistert, und auch ich kann Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, diese Rarität trotz der szenischen Langeweile ans Herz legen.
Ihr
Jochen Rüth
13. März 2025
Guillaume Tell
Oper von Gioachino Rossini
Opéra Royal de Wallonie-Liège
Premiere: 12. März 2025
Regie: Jean-Louis Grinda
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Orchestre Opéra Royal de Wallonie-Liège
weitere Vorstellungen: 14., 16., 18. und 20. März 2025