Konzert am 25.6.2018
In ihrem Abonnementkonzert VIII nun besetzte die Staatsoper Berlin die Solopartien dieses Ausnahmewerks ebenfalls mit einer Russin, einem Briten und einem Deutschen. Die Sopranistin Anna Nechaeva sang die lateinischen Texte der Totenmesse im Zentrum des vorzüglich und differenziert gestaltenden Staatsopernchors (Einstudierung: Martin Wright). Ihr fantastisch fokussierter Sopran verfügt über ein ausgeglichenes, apartes Timbre, klang nie exaltiert oder schrill, fügte sich wunderbar in den Gesamtklang eine oder erhob sich ausdrucksstark über den Chor. Eindringlich gestaltete sie das Liber scriptus, das Rex tremendae, das Lacrimosa und natürlich kam ihre Stimme besonders im Sanctus ganz wunderbar zur Geltung. Der Tenor Ian Bostridge besaß die ideale Stimmfarbe für die Interpretation der von Britten in den lateinischen Text der Totenmesse eingefügten Gedichte Wilfred Owens: Hell, klar, mit subtiler Textdurchdringung sang er die nachdenklich stimmenden Texte Owens, suchte immer wieder den Blickkontakt zum Publikum, was dem Ganzen eine Eindringlichkeit, ja eine Anklage ganz besonderen Ausmaßes verlieh. Bostridge gehört zu jenen bewundernswerten Sängerpersönlichkeiten, welche ihr Repertoire stets genau ihren stimmlichen Möglichkeiten angepasst haben. Seine Stimme scheint über die Jahrzehnte nicht gealtert zu sein (auch physisch scheint er bewundernswerterweise kaum älter zu werden), klingt nach wie vor jugendlich, oft knabenhaft ätherisch, ausgezeichnet und bruchlos geführt, biegsam und mit stets schlanker Tongebung. Seine Interpretation jedenfalls stimmte nachdenklich, ließ am Grauen des Krieges teilhaben, die Anklagen , der Zorn, die Empörung über das sinnlose Abschlachten der jungen Männer im Krieg verfehlten ihre Wirkung nicht, so z.B. am Ende des Dies irae, wo er – quasi im Zwiegesang oder als Gegenklage zum Lacrimosa der Sopranistin Anna Nechaeva – ganz eigentümliche Emotionen zu evozieren vermochte. Mit ebensolcher Intensität trug der Bariton Matthias Goerne Owens Texte vor. Goernes Bariton ist perfekt gerundet, auch er vermochte die Bitternis, ja teilweise den Sarkasumus von Owens nachdenklich stimmenden Gedichten zu transportieren. Beklemmend erklang im Libera me sein langer Monolog, der mit den Worten I am the enemy you killed, my friend seinen Gänsehaut erregenden Höhepunkt erreichte.
Neben dem Staatsopernchor wirkte auch der Kinderchor der Staatsoper (ganz oben in einer der Emporen links hinter dem Orchester platziert) entscheidend mit und verlieh dem Werk den quasi himmlischen Kontext, die Unschuld der Engel. Dass der Chor nicht nur mit Knabenstimmen besetzt war, wie es Britten vorgeschwebt haben mag, tat der Wirkung keinen Abbruch. Der Staatsopernchor, der oft nur flüstern und ganz zart intonieren muss, löste seine schwierige Aufgabe mit traumhaft sicherer Eindringlichkeit. Da stand das wunderschön intonierte Kyrie neben dem verstörenden, clusterartigen Gemurmel des Pleni sunt coeli – alles sehr kunstfertig umgesetzt.
Sir Antonio Pappano, der Musikdirektor des Royal Opera House Covent Garden, setzte Brittens komplexe Partitur mit all seiner Erfahrung als Operndirigent bezwingend um, hielt die vielen Schichten und Elemente zusammen, sorgte für die bemerkenswerte Balance zwischen den Chören, den Solisten und den beiden Orchestern. Denn Britten schrieb das Werk nicht nur für ganz groß besetztes Sinfonieorchester, sondern ließ die Passagen und Einwürfe von Tenor und Bariton von einem Kammerensemble untermalen, was zu hoch spannenden Kombinationen von Singstimmen und Soloinstrumenten führte. Die Musiker der Staatskapelle Berlin wurden den immensen solistischen und Tutti-Anforderungen mehr als gerecht, da ließ so manche Stelle aufhorchen (Pauke, Harfe, Solovioline, vertrackte Passagen der Holz- und Blechbläser), alles ganz vorzüglich und mit ausdrucksstarker Intensität interpretiert. Am Ende, im Libera me, kommen all die Elemente erstmals zusammen, doch statt der Ruhe und des Friedens, welche der lateinische Text erbitten, kommt mit den Einwürfen des Tenors und des Baritons (Let us sleep now) eine immense Trauer auf. Der zeitlebens überzeugte Pazifist Benjamin Britten setzte mit diesem Meisterwerk ein zutiefst bewegendes Plädoyer für Menschlichkeit und Frieden – ein Zeichen, welches auch das Publikum in seinen Bann zu ziehen schien. Selten hat man in einem Konzert so wenige Nebengeräusche gehört, so viel Konzentration wahrgenommen.
Kaspar Sannemann 29.6.2018