Doppelbesprechung
Leonard Bernstein zum 100. Geburtstag
Sonntag 4. März 2018 – Beginn 20 h
Andrés Orozco-Estrada & Houston Symphony, Hilary Hahn (Violine)
Prelude (Beginn 19.30 h): "Die Kunst des Hörens" – Eine Konzerteinführung durch Andrés Orozco-Estrada mit Orchester
Leonard Bernstein: "Prologue" zu "West Side Story"
Leonard Bernstein: Serenade nach Platons "Symposium" für Violine, Streicher, Harfe und Schlagzeug
Antonín Dvorák: Sinfonie Nr. 7 d-Moll, op. 70
8. Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker
Freitag 16. März 2018
Tomás Netopil & Essener Philharmoniker, Daniel Bell (Violine)
Ralph Vaughan Williams: Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis
Ralph Vaughan Williams: "The Lark ascending" – Romanze für Violine & Orchester
Charles Ives: "The unanswered Question"
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5 c-Moll, op. 67
Manchmal macht es durchaus Sinn die Besprechung zweier Konzerte völlig unterschiedlichen Inhalts in einer Kritik zu verbinden. Denn beide Konzerte haben eines gemeinsam: der erste Teil ist wirklich sensationell sowohl in der Programmauswahl (Raritäten der besonderen Art) als auch in der Qualität der Darbietung. Aber in beiden Konzerten ist der zweite Teil eine Art Zugeständnis an das Publikum, sozusagen etwas Bekanntes aus der Klassik-Hitparade des überall gespielten Üblichen.
Wobei die Essener Musici natürlich mit Beethovens Fünfter, die schon Schobert und Black in den 60ern zum Bardenhit umstilisierten oder die Band Ekseption auf Platz Eins der internationalen Hitparade brachte, einen Volltreffer landeten.
Dvoraks Siebte (einige hatten wohl gedacht, es wäre die "Aus der Neuen Welt" – nein liebe Freunde, das ist die Neunte !) hinterließda schon eher lange Gesichter, denn ein Burner, wie man heute modern sagt, ist das Werk nicht gerade. Immerhin hatte Andrés Orozco-Estrada in seiner Einführung passende Worte gefunden, indem er Struktur und Noten gerade dieser Sinfonie als die eines "Suchenden" bezeichnete.
Leonard Bernstein
Allein für diesen Komponisten lohnt sich jedes Konzert, wobei Bernstein sicherlich bei uns den erheblich höheren Bekanntheits- und Beliebheitsgrad hat.
Und was fällt Ihnen, verehrte Leserschaft sofort zu Leonard Bernstein ein? Genau! West Side Story. Man darf keinen Bernstein spielen ohne wenigsten den Prolog (6,35 Minuten) mit einzubinden.
Ist der Dirigent ein Netter, dann lässt er das Publikum (nach kurzer vorheriger Probe bei der Einführung) auch das laute "Mambo" mitgrölen, was sonst meist nur den Musikern vorbehalten bleibt. Der Prolog ist übrigens identisch mit der Film-Ouvertüre.
Von dem dann folgenden halbstündigen Mega-Highlight Bernsteins, nämlich der Serenade nach Platons Symposium haben Sie bestimmt noch nie gehört. Es gibt davon auch nur zwei Aufnahmen, obwohl sogar Anne-Sophie Mutter das Stück gelegentlich im Konzert ganz hinreißend spielte.
Hilary Hahn
Ist für das Bernstein-Opus eine adäquate Violinistin allerersten Ranges. Und wer die hoch schwierigsten Stücke von Paganini mit der Leichtigkeit des Seins bzw. der Hitparaden-Lockerheit eines André Rieu auf´s Parkett legen kann, dem bereitet auch dieser tolle und anspruchsvolle Bernstein keine Schwierigkeiten.
Das schöne an einem Superstar wie Hahn ist die Tatsache, daß sie bei allem entrückt und überirdischem Musizieren noch bodenständig geblieben ist. Als "Ein Wunder der Natürlichkeit" wurde sie öfter bezeichnet. Immerhin wurde Hilary Hahn 2012 in Essen mit dem Jahrespreis 2012 der Deutschen Schallplattenkritik für ihre Aufnahme der Violinsonaten von Charles Ives ausgezeichnet. Oh wie göttlich wäre es gewesen, wenn sie diese im zweiten Konzertteil gespielt hätte! Die zweite Sensation wäre gleichzeitig gewesen, daß dann endlich, endlich, endlich einmal ein amerikanisches Top-Orchester nur Musik aus dem Heimatland präsentiert hätte. Wunschträume eines Kritikers. Aber wer wäre da, außer mir noch gekommen? (Achtung Ironie !)
Interessant ist die Tatsache, daß der große Isaac Stern dieses Stück nicht nur uraufgeführt hat, sondern es auch immer wieder in seine Konzerte einbrachte. Geschrieben wurde das wunderschöne aber nicht leichte Stück als Auftragswerk der Koussevitzky-Stiftung in Memoriam an den großen Serge Koussevitzky 1951.
Man muß sich schon weit in die griechische Geschichte der großen Philosophen hineinwagen und sich auskennen, um zu begreifen was der große Lenny Bernstein mit diesem Stück sagen wollte. Das Symposium um das es hier geht, ist Platons erdichtete Rekonstruktion der Reden während eines Gastmahls, zu dem der Philosoph Sokrates und seine Athener Freunde zusammengekommen waren. Andrés Orozco-Estrada schaffte es bei seiner begnadeten Einführung jenes elitäre Konstrukt, welches vermutlich gerade einmal zwei Anwesende von den 2000 Besuchern überhaupt kannten, mit einfachen verständlichen Worte zu erläutern: "Es geht eigentlich nur um die Liebe! Die kleinen Stücke sind Lobpreisungen der Liebe." Klingt übrigens auch in dem Wort "Serenade" (Bernstein verwendet bewusst nicht den Titel Violinkonzert) schon an, denn (Italienisch sera) das waren Liebeslieder, die unter den Fenstern und Balkonen edler und unedler – jedenfalls angebeteter – Damen intoniert wurden. Der große Biograph Humphrey Burton schrieb dazu "Bernstein wollte uns sicherlich zu verstehen geben, daß eben diese Serenade alle seine liebevollen Gefühle für all seine Mitmenschen zum Ausdruck bringen sollte."
Ralph Vaughan Williams
Daß einer der schönsten Melodienschreiber (Spätromantik pur!) bei uns so wenig gespielt wird, ist ein Rätsel. Ich gebe unumwunden zu ein großer Vaughan Williams Fan zu sein. Der englische Komponist, Dirigent und Filmmusik-Schreiber (1872-1958) hat so viele wunderbare Werke geschrieben, daß es wirklich eine Schande ist, dass man ihn so wenig im deutschen Konzertleben beachtet. Gerade seine Sea Symphony (Nr.1 von 9 Sinfonien) ist ein geniales Werk, welches sich nicht nur in Besetzung und Länge (über 70 Minuten mit Solisten und großem Chor) durchaus mit z.B. Mahlers 2. messen kann. Ganz tolle Musik! Bitte hören Sie einmal rein – die grandiosen Stellen liegen schon in den ersten fünf Minuten (soviel Zeit muß sein!)
Die Englische Post bachte sogar eine Ehrenmarke für ihn heraus.
Die im Konzert gespielten Stücke (Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis und The Lark ascending) ich sag es einmal mit ironischen Duktus: sind schöne "Filmmusiken" und würden auch zur Untermalung zum Herrn der Ringe sich noch grandios anhören. Howard Shore möge mir verzeihen.
Vaughan Williams ließ sich bei The Lark ascending (Musikbeispiel mit Hilary Hahn!) vom gleichnamigen 122-zeiligen Gedicht von George Meredith über eine Lerche inspirieren. Durchaus Programm-Musik, die den Aufstieg einer Lerche in den Himmel symbolisiert. Und wer die Augen schließt, kann sich das im Konzert leicht vorstellen. Ein ganz wunderbares Stück Klassik, welches mit einem superben Violinisten –
wie hier Daniel Bell – wirklich in himmlische Gefilde entführt. Kann Musik schöner sein? Das von Vaughan Williams in der Fantasia verarbeitete Thema hatte Thomas Tallis (1505 – 1585) – immerhin einer der großen Meister der elisabethanischen Blütezeit englischer Renaissance-Musik – 1567 für ein Psalter-Gesangsbuch des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury geschrieben. Zu dieser 17-minütigen Fantasia ist nicht viel zu sagen, außer: Es ist eines der schönsten Stücke für Streichorchester. Man muß einfach die Augen schließen und es genießen.
Charles Yves
The unanswered Question (Musikbeispiel mit Andrés Orozco-Estrada – bitte unbedingt reinhören!) ist eines der bekanntesten Kurzstücke des großen amerikanischen Komponisten, denn es eignet sich vorzüglich als Auftakt zu einem folgenden größeren Werk z.B. einer Mahler-Sinfonie oder wie hier Beethovens Fünfter. Dabei wird es nicht selten nahtlos angebunden.
Es gehört zu jenen Ives-Musiken, die nicht gleich wegen der Atonalität oder komplexer Notenspiele verschrecken oder den Zuhörer irritieren. Immerhin ist es mit sechs Minuten sehr kurz und hat eine auch für Beethovenianer durchaus anhörbare, tonale Struktur, weshalb man es gerne als modernes Feigenblatt in alle möglichen Konzertprogramme einbaut.
Ansonsten fristet die geniale Musik von Charles Ives bei uns immer noch ein Mauerblümchen-Dasein. Hier geht es um musikalisch formulierte Fragen der Orchestergruppe der Blechbläser und die Antworten, die durch die Holzbläser zwar anklingen, aber nicht richtig gegeben werden. Sollte sie dieser Text nun irritieren, dann hören Sie, verehrter Musikfreund, doch einfach mal rein. Vielleicht finden Sie die Antwort ;-). Nur Mut, es ist ein eigentlich ganz wunderbares kurzes Stück.
Last but not least die Würdigung zweier toller Dirigenten und Klangkörper. Das Houston Symphony Orchestra gehört zwar nicht offiziell zu den TOP FIVE, aber auf dem sechsten Platz steht es auf jeden Fall; und mit dem superben Dirigenten und charmanten Plauderer (noch nie hat eine Einführung soviel Spass gemacht) Andrés Orozco-Estrada ist der Begriff Weltklasse nicht zu hoch gegriffen.
Tomás Netopil und seine Essener Philharmoniker beweisen gerade und nachdrücklich in dieser Konzertsaison, daß sie auch Ausgefallenes, Seltenes und Hochschwieriges ganz großartig in ihr Repertoire integriert haben. Bravi!
Die Programmauswahl der Saison 2017/18 ist mehr als vorbildlich, denn neben Populärem standen mit bisher mit Martinu, Vasks, Milhaud, Antheil, Gruber, Poulenc, um nur einige zu nennen, fantastische Komponisten auf dem Spielplan.
Daß wir demnächst auch noch Korngold, Weill und Copland auf dem Schedule haben und filmmusikalische Kleinodien von Leonard Bernstein, Max Steiner und Miklós Rózsa, ist eine ganz wunderbare Sache und spricht für intelligente, vielseitige und künstlerisch anspruchsvolle Abo-Konzert-Planung jenseits des altbacken und tradiert üblichen Allbekannten. "Gut goahn!" ruft der Kritiker aus dem Kohlenpott.
Peter Bilsing 21.3.2018
Bilder (c) Philharmonie Essen / Susanne Diesner / Faber & Faber / sony classic / new world records / Essen Tourismus / Hamza Saad