Am Ende seines Lebens kam Hermann Hesse wieder auf die musikalischen Götter seiner Jugend zurück. Bach und Händel hatte er immer verehrt und geliebt, nun hörte er auch, auf Schallplatten und in Konzerten, Pachelbel, Schütz und andere damalige Raritäten – also eine Musik, die seinerzeit zur „alten“ gezählt wurde. Für Hesse, der lebenslang mit Spannungen gekämpft hat, die sich in den 20er Jahren zu einer regelrechten Krise auswuchsen (im Steppenwolf hat er sie mit Bezug auf die Pole Mozart – Wagner ausgemalt), war die Musik der Alten ein Heilmittel, weil sie für ihn all jener Störungen entbehrte, die sich bereits in der Musik der Klassik, sogar bei Mozart, da hatte er völlig Recht, eingenistet hatten.
Wie hätte er wohl die Oper und die Konzerte beurteilt, die nun, an zehn intensiven Tagen, beim Festival Bayreuth Baroque zu erleben waren? Möglicherweise hätte er sich über die (kontrollierte) Wildheit von manch Interpretation, auch über die harmonischen Kühnheiten gewundert, die an manch Abend zu hören waren. Vielleicht hätte er die Koloraturkaskaden, die aus manch Solisten-Kehle – Marco Vistoli, Rémy Brès-Feuillet, Julia Lezhneva, Franco Fagioli, Mariana Flores, Suzanne Jerosmes und Marina Viotti – drangen, als äußerliche Zirkusnummern abgetan. Bayreuth Baroque aber steht dafür ein, auf der Grundlage von gelegentlich archäologischen Forschungen die Fülle und den Reichtum der barocken Klang- und Musiksprachen ans Licht zu holen, um sie in die Ohren der Hörer träufeln und spritzen zu lassen.

2025 hat man das relativ umgrenzte Gebiet der Opera seria verlassen, um sich einer früheren Epoche der Operngeschichte zuzuwenden und um das Hauptwerk einen Kranz von passenden Einzelstücken zu legen. Das Thema lautete diesmal: Venedig im 17. und 18. Jahrhundert. Die Oper, Cavallis Pompeo Magno, schlug wieder gewaltig und freudebringend ein, kann inzwischen auch in einem Stream genossen werden. Wieder hat man ein Werk aus den Tiefen der Archive geholt, das bis dato nur den absoluten Cavalli-Spezialisten bekannt gewesen sein mag, doch wichtiger als die Tatsache, dass hier wieder ein seltenes Opus geborgen wurde ist die Art und Weise, wie es gemacht wurde – mit einem Wort: schlichtweg brillant. Kann sein, dass mit dieser Aufführung, nicht zuletzt aufgrund der Popularisierung durch den Stream, so etwas wie eine neue Cavalli-Renaissance einsetzen wird; die Reaktion des Publikums war jedenfalls eindeutig.
Apropos Publikum: Wieder ist vor Allem eine internationale Kennerschaft nach Bayreuth gekommen, die sich vom Publikum des anderen großen Festspiels dadurch unterscheidet, dass sie dem Haus und den Musikern und Sängern, auch dem Publikum selbst, also den Sitznachbarn, respektvoll gegenüber tritt. Man beschimpft sich nicht, weil man zu spät kommt, lässt nicht oder doch kaum sein Handy klingeln, schießt nicht oder doch kaum Handyfotos während der laufenden Aufführung und springt nicht nach dem Schlusstakt wie besessen vom Sitz auf. Man genießt, ohne mit den Hufen zu scharren, die Rezitative, Arien, Kantaten, Motetten und Concerti eines Vivaldi, Geminiani, Scarlatti, Porta, Porpora (dem durchaus unheimlichen Schutzgeist des Festivals seit seiner Gründung 2020) und immer wieder eines Cavalli und fällt – auch das unterscheidet Bayreuth Baroque von den Bayreuther Festspielen – in den Pausen und danach nicht durch uninformierte Kommentare und die Kunst und die Künstler abkanzelnde Meinungsäußerungen auf. Wieder wurde ein Residenz-Orchester gefeiert: die Capella Mediterranea unter ihrem Leiter Leonardo Garcia-Alarcón, der einige Künstler und Künstlerinnen mitbrachte, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitet. Man merkte es, als Mariana Flores im Kerzenschimmer der Ordenskirche stand und zusammen mit den Musikern einen das Publikum hinreißenden und sehr besonderen Opernabend gab. Bayreuth Baroque zeigte in diesem Jahr auf besonders starke Weise, dass sich die Grenzen der Barockmusikpraxis in Sachen Ausdruck und Klang weit in die musikalische Moderne verschoben haben. Dies gilt selbst für Interpretationen, die aufs erste Hören relativ traditionell anmuten. Unterm Strich profitierten alle Musiker und Sänger von den Freiheiten, die ihnen die Musik der Gegenwart zu geben vermag. Das Publikum merkt’s – und ist beglückt.
Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob der Genuss all dieser Köstlichkeiten nicht einfach nur eskapistisch ist, ob sie nicht eine Traumwelt schafft, die von den so genannten wichtigen Problemen der Gegenwart unzulässig ablenkt. Wäre es nicht, könnte man argumentieren, wichtiger, mit einer problematisierenden, düsteren Inszenierung des Pompeio Magno auf die Bosheit der Menschen und den Zustand der Welt hinzuweisen, wie es in anderen Inszenierungen von Barock-Opern längst üblich ist? Lullt uns die Festivalleitung – Max Emanuel Cencic in der Personalunion von künstlerischem Leiter, Regisseur und Sänger – mit einer überbordenden Schönheit nicht unzulässig ein? Wurde hier nicht ein Barockfest, noch dazu für reale Festspielpreise, für ein exklusives Hochkultur-Publikum veranstaltet, das sich derartige Fluchten zu leisten vermag? Man kann diese Frage eindeutig beantwortet: Jein. Denn die ästhetische Schönheit der Operninszenierung wie die Schönheit (und Genauigkeit) der Musik wie ihrer Interpretationen und Interpretinnen ist einerseits so offensichtlich, wie sie andererseits, gerade weil sie so ist, benötigt wird; Hermann Hesse hatte da schon Recht. Gewiss: Kein Konzert, keine Musik und kein Anhören von hervorragend gemachter Musik vermag, sagt Christina Pluhar, die Leiterin des Terra Mater-Konzerts mit Greta Thunbergs Mutter Malena Ernman, den Klimawandel beeinflussen, doch hofft sie zumindest, „dass die Kraft der Musik den Zuhörer daran erinnern möge, dass wir alles daransetzen müssen, die Natur in all ihrer Schönheit zu erhalten“. Die Oper Pompeio Magno, sagte Cencic, vermittele die Botschaft des republikanischen Durchhaltens. Auch das ist ja eine Aussage, mit der man 2025 arbeiten kann. Im Übrigen hat Kunst keinen irgendwie gearteten politischen oder gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen (wenn sie glückt, tut sie es von selbst), sondern erst einmal zu bewegen. Dies ist auch 2025 in beeindruckendem Maß gelungen.

Die immer wieder ventilierte Frage, ob das Festival auch weiterhin noch von der Stadt Bayreuth und von staatlichen Institutionen hoch subventioniert werden soll, gebt also verloren. Für das einzigartige, die Theaterkultur des Barock perfekt abbildende und repräsentierende Welterbe Markgräfliches Opernhaus ist keine Nutzung angemessener, keine Veranstaltungsreihe so ideal geeignet wie das musikalisch, szenisch und nicht zuletzt dramaturgisch unverwechselbar wie erstklassig gearbeitete Programm des Bayreuth Baroque. Dass es sich nicht an „die Bayreuther“ richtet, wie von Seiten der Gegner der so genannten „Hochkultur“ (merke: Wenn Kultur Kultur ist, ist sie immer hoch) moniert wurde, ist, nebenbei, Unsinn, denn „die Bayreuther“, die man kaum in den Vorstellungen sieht, haben ja die gleichen Chance, die Veranstaltungen zu besuchen. Sie tun es nur nicht, weil sie, man kann das pauschal und ohne Vorwurf sagen, kaum ein Interesse an so etwas Feinem wie dem Barock haben, dessen Musik längst in den Tiefen der Opernhäuser angekommen ist. Stattdessen kommt man aus den USA, aus Frankreich, Spanien, Italien, Österreich… – all das ist gut für die Hotels, Gasthäuser und den Handel und macht, nur zehn Tage nach dem Ende der Bayreuther Festspiele, aus Bayreuth eine ganz andere Festspielstadt.
Schluss: Wenn es das Bayreuth Baroque nicht gäbe, müsste man es erfinden.
Frank Piontek, 16. September 2025