Bayreuth: „Marina Viotti“, Rezital

© Clemens Manser Photography

„Furie! Furie! Furie!“, brüllt das Publikum, aber keine Angst: Es meint nicht die Sängerin, sondern die wilden Geschöpfe, die von der endlich triumphierenden Judith wahrlich furios angesungen werden.

Die Arie Armatae face et anguibus steht am Ende des offiziellen Programms, das einfach „Rezital“ heißt, aber eine Linie hat. Marina Viotti und das Orchestre de l‘Opéra Royal de Versailles widmen sich am vorletzten Tag des Festivals Bayreuth Baroque zum einen einigen italienischen, vornehmlich aber venezianischen Komponisten, zum anderen einer Kultur, die im Wesentlichen von Frauen mitgestaltet wurde – weil in der Lagunenstadt eine relative Liberalität herrschte, die es weiblichen Musikern erlaubte, wenigstens im halböffentlichen Raum aufzutreten; die berühmten Konzerte der diversen Ospedali wurden von vielen Gästen, die aus ganz Europa anreisten, besucht. Vivaldi, heute der weltweit bekannteste Komponist Venedigs und einer der besten und innovativsten Musiker der Epoche, schrieb viele seiner Werke für die Frauen, die denn auch noch in manch Titel von manch Konzertstück erscheinen. Das h-Moll-Violinkonzert RV 387 heißt heute, nach der Widmung, Per Signora Anna Maria, Andrés Gabetta, der Leiter des Ensembles und Primgeiger, spielt es so virtuos und explizit – die Trommelbässe des Largo, über der die Arie schwebt, kommen so scharf wie die der Frost Music aus Purcells King Arthur – wie das bekannte Grosso Mogul-Konzert RV 208, das sich durch eine vergleichsweise lange eigenhändige Kadenz aus der Feder Vivaldis auszeichnet. Wichtiger als die Tatsache, dass Vivaldi die für lange Zeit kanonische Struktur der „klassischen“ Konzertform schuf, ist die Interpretation, die das Publikum so hinreisst wie Marina Viottis Vokalkünste.

Dabei beginnt sie den Abend nicht wild und bezaubernd unbändig, sondern eher zurückhaltend, wie‘s die Stücke halt vorsehen. Sie ist keine Bartoli des Barockgesangs, sondern, unter dem Flachrelief des Löwen von San Marco, eine Sachwalterin auch jener Komponisten, die mit einer geistlichen Komposition jener Zartheit Ausdruck gaben, wie sie beispielsweise einem Marienlob angemessen ist. Die Motette Volate gentes des eher unbekannten Giovanni Porta passt, auch mit seinem finalen Alleluja, insofern trefflich zu Porporas Salve Regina. Wieder merken wir, dass der Mann, der den Sängern die virtuosesten Koloraturen in die Kehle schrieb, eine durchaus seelenvolle Musik zu schreiben wusste, die in aller Unaufgeregtheit den frühen Mozart ahnen liess; er starb, als der Salzburger 12 Jahre alt war und bereits bedeutende Werke für die Kirche geschrieben hatte.

Wird ein Concerto von Pietro Locatelli gespielt, betritt man allerdings einen ganz anderen Raum, der uns von Neuem zeigt, dass es „die“ Barockmusik nicht gibt. Der Mann aus Bergamo gehörte zu den originellsten Avantgardisten seiner Zeit, wie schon das harmonisch und melodisch gleichsam unregelmäßige, deshalb auch hochspannende, auch klanglich scharf konturierte Largo aus dem Concerto grosso op. 1/11 demonstriert (ein Tip an alle Barock-Gegner: einfach mal in einen Locatelli hineinhören). Danach aber folgt der Vivaldi-Block, eine Kette von instrumentalen und stimmlichen Köstlichkeiten: zwei Arien aus der Juditha triumphans (es ist dies leider das einzige der Oratorien Antonio Vivaldis, das überlebt hat), der äußerst tänzerischen Motette Ascende laeta RV 635, dem Violinkonzert für die junge Anna Maria und der kurzen wie pfiffigen Kantate Canta in prato, ride in monte RV 636. Dass sie pfiffig ist: dafür sorgen erst die Musikerinnen und Musiker mit ihrem Elan – und wieder werden Weltliches und Geistliches austauschbare Begriffe. Der scheinbar mühelose, von der Tiefe bis in die Höhe reichende Gesang Marina Viottis, die ausgewählten Werke, unter denen sich kein einziges Lamento befindet, und die schlafwandelnd-sichere Qualität des Ensembles machen aus dem Abend ein Wohlfühlprogramm erster Güte. Der Schluss aber heißt nicht Venedig, sondern fast Versailles. Da spielt man wieder einen der französischen Barock-Schlager, also Rameaus berühmtesten Tanz au Les Indes Galantes, den Danse du Grand Calumet aus den Sauvages, doch nicht in der Originalfassung, sondern in einer Vesion von Michel de Corrette. Er wird, ausgekoppelt aus dem Concerto Comique Nr. 25 Michel Correttes, unter den Händen Andrés Gabettas zum brillianten Konzertstück. Das Finale aber lässt nicht alle, aber viele Besucher des letzten Konzerts des Bayreuth Baroque 2025 in den wütenden Ruf nach den Furien ausbrechen.

Ein Höhepunkt des Festivals? Ein Höhepunkt!

Frank Piontek, 16. September 2025


Bayreuth Baroque
arina Viotti. Rezital
Markgräfliches Opernhaus

13. September 2025

Leitung: Andrés Gabetta
Orchestre de l‘Opéra Royal de Versailles