La Musica lächelt. Kein Wunder, denn schon mit der berühmten Toccata, also der Gonzaga-Erkennungsmelodie, dem Leitmotiv der mantuanischen Fürstenfamilie, die sich durch die Förderung Claudio Monteverdis unsterblich machte, schon mit der Introduktion zum Orfeo erreicht die Musik die Herzen. Es ist dies kein Widerspruch zur Tatsache, dass im Verlauf der Favola in Musica, wie das Werk sinnreich und mehrdeutig untertitelt ist, die Musik eine sehr seltsame Wirkung hat.
Es ist ja bekannt, dass der Sänger Orfeo enttäuscht, indem er nicht allein seine Affekte nicht im Griff hat. Seine Musik sorgt auch dafür, dass sie den Fährmann Caronte einschläfert; auch ist es nicht die Musik, die den Unterweltsgott davon zu überzeugen vermag, dem Witwer die Chance zu geben, seine tote Frau aus der Unterwelt an die Oberwelt zu holen. Wenn am Ende der Musengott Apoll den Sänger zu den Sternen und in den Ruhm der Ewigkeit holt, ist‘s ein schwacher Trost für den Mann, der gerade, aufgrund seiner Schwäche, seine Frau zum zweiten Mal verloren hat. Die alles ist kein Widerspruch zum Umstand, dass die Musik in Monteverdis Orfeo alles in allem siegt – denn der Kapellmeister schrieb mit ihm nicht allein die erste wirkliche Oper, sondern im Geburtsjahrzehnt der Oper bereits ein Werk, „in der sich Musik und Drama so perfekt, so lückenlos, so glaubhaft und so schlüssig durchdringen“ wie in keiner anderen Oper.
Dies ist jedenfalls die Meinung Silke Leopolds, einer der größten Kennerinnen des Musiktheaters des 17. Jahrhunderts. Zumindest überragt der Orfeo von 1607 alle seine Vorgänger, die seit Jacopo Peris (nur fragmentarisch überlieferter) Dafne komponiert worden sind. Man höre sich nur seine Euridice an – etwas Trockeneres dürfte es seinerzeit kaum gegeben haben. Kein Wunder, dass Nikolaus Harnoncourt, der zusammen mit Jean-Pierre Ponnelle in den 70er Jahren eine spektakuläre Monteverdi-Renaissance ermöglichte, für Peri nur ein paar abfällige Bemerkungen übrig hatte.
Monteverdis Orfeo aber hat die letzten 420 Jahre glänzend überlebt, was natürlich allein an den musikalischen Interpretationen liegt, denn der dürre Notentext, bestehend aus der Singstimme und einem lediglich angedeuteten Grundbass, bietet lediglich die Aufführungsbasis. Allein Monteverdis Musikdrama ist so stark, dass sie bereits ein spannendes Opernereignis garantiert, wenn es nur konzertant gebracht wird – aber was heißt schon „nur konzertant“? Rein konzertante Opern sind unmöglich, da es einem Sänger unmöglich sein dürfte, seine Figur ganz ohne Affektausdruck auf die wie auch immer aussehende Bühne zu stellen. Selbst ein wamperter Orfeo im Frack ist immer noch ein Orfeo. In Bayreuth steht die lautten compagney BERLIN auf der Bühne des Markgräflichen, also genau 150 Jahre vor der Mantuaner Uraufführung eröffneten und von Gott Apoll beschirmten Opernhauses – ein in der Rokokozeit erbautes Haus des italienischen Hochbarock, in dem die erste wirkliche Oper der Spätrenaissance gespielt wird.
Der Chor ist bekannt und im Falle Orfeos bedeutend: der Monteverdi-Chor Hamburg hat schon 1974, in der Fassung des Dirigenten Jürgen Jürgens, eine wichtige Einspielung des Werks vorgelegt. Wir hören also in Bayreuth mit dem Vokalensemble ein Stück Tradition – auch in ästhetischer Hinsicht. Auch für die neue Aufführung, mit einem anderen Instrumental- und Sänger-Ensemble, gilt Wort für Wort, was Dietmar Holland 1988 über die 1974er-Einspielung gesagt hat: „eine eher episch als dramatisch orientierte Auffassung der ersten Oper Monteverdis“. Das macht nicht allein die Tatsache, dass man sie dreiviertelkonzertant, sondern musikaktionistisch stellenweise gleichsam klassizistisch bringt. Unter dem am „Gravicembalo“ sitzenden Dirigenten Antonius Adamske erinnert der Chor an das Vorbild der antiken, also reflektierenden Tragödienchöre, ein Erbe, das die griechischen Tragiker mit den Librettisten und Denkern der italienischen Akademien verband, die, aber das ist nur die halbe Wahrheit, das antike Drama rekonstruieren wollten. So tänzerisch schwungvoll und schwer pathetisch auch manch Einzelheit wirkt – der Auftritt der Messagera, die den ersten Schockmoment in der Geschichte der Oper realisiert (bis dahin war Orfeo eine der üblichen Pastoralen), wirkt auch an diesem Abend -, und so farbig und bewegt auch manch instrumentale und dramatische Szene gemacht wird – das gelegentlich traurigste Harmonien produzierende Terzett der zwei Violinen und der Viola ist schon schier bezwingend -, so zurückhaltend wird der Tonfall zumal im zweiten Teil, in dem Orfeos, die Pathologie streifende Trauer breiter ausgemalt wird, als es einer dreiviertelkonzertanten Aufführung vielleicht gut tut. Mag sein, dass der kurze zeitliche Abstand zum Festival Bayreuth Baroque, in dem man die Musik des Monteverdi-Schülers Francesco Cavalli in brillanten und niemals schleppenden Interpretationen kredenzte, einen Einfluss auf das Hören dieses Orfeo hat.
Virgil Hartinger, so heißt der Orpheus im Frack. „Um in dieser Rolle“, lese ich im Fachorgan Wikipedia, „nicht unglaubwürdig zu werden, muss er eine exemplarisch schöne Stimme und hohe Virtuosität haben. Diese Stimme war nach damaligem Geschmack allerdings keineswegs ein strahlend heller Tenor (im Sinne heutiger Opernsänger) und erst recht keine Kastratenstimme. Als schön galt vielmehr eine mittlere Stimmlage, die trotz müheloser Höhen und Tiefen alle Extreme mied. Diese Stimmlage wird daher bei Orfeo vorausgesetzt (die Bezeichnung ‚Bariton‘ war damals nicht gebräuchlich). Abgesehen also von sehr hohen und tiefen Tönen wird alles von ihm gefordert: der bukolische Liedgesang, der Bravourgesang, das Schmachten und Schmeicheln, Innigkeit, Verzweiflung, Zorn und die höchst artifizielle Verzierung – dazu eine fast ununterbrochene Präsenz auf der Bühne.“ Alles das macht Hartinger quasi rollendeckend, wobei der „Bravourgesang“ keine Sache einer exzeptionellen Virtuosenkunst ist, sondern eher die Fähigkeit beschreibt, die geforderten Affekte zwischen seinem schlagermäßigen Freudengesang und dem ausführlichen Lamento ohne Koloraturen zu gestalten. „Possente spirto“, seine lange, an den Unterweltsfährmann gerichtete Arie – die den Mann einschläfert… , ist in Hartingers geläufiger Gurgel weniger eine Prunknummer als eine innige Ansprache. Im Übrigen nimmt man, basierend auf Jürgen Jürgens (1974) an, dass man in Monteverdis Zeiten den recitar cantando zumindest in den ariosen und liedhaften Teilen ausgeziert hat. Die Frage ist nach wie vor umstritten, Harnoncourt wies darauf hin, dass der Komponist nur dort, wo er Verzierungen haben wollte, sie auch notierte; in Bayreuth hören wir‘s eher bei den Instrumentalisten als den Sängern. Was die Instrumente betrifft, so verfügt die compagney über das gehörige Instrumentarium: von den Streichern, der Blockflöte, Zinken und der Harfe der Hirten- und Götterwelt zu den Posaunen und der großen (der organo di legno) und kleinen Orgel (dem schnarrenden Regal) für die jenseitigen Gestalten und die Trauerszenen.
Die Frauenrollen wurden nicht, wie 1607, mit Männern, sondern mit weiblichen Sängern besetzt. Tamara Obermayr singt die Messagera, also die Unglücksbotin, sie tut es angemessen gravitätisch, wie gesagt: dieser Monteverdi hat auch etwas Klassizistisches, was auf eigene Weise zur Wiederentdeckung, besser: Wiederhochschätzung der Antike in der Renaissance passt. Benjamin Sattlecker ist der Apollo, das Hirtenensemble wird, etwas ungleichgewichtig, mit ersten und zweiten Kräften besetzt, die auch den Caronte, den Plutone, das Echo, die Speranza und die Spiriti machen.
Die Musica aber ist auch die Euridice, was genauso tiefsinnig ist wie die Doppelbesetzung der Todesbotin mit der Proserpina, die dafür sorgt, dass Orfeo seine Euridice an die Oberwelt begleiten darf. Euridice ist eine Wurzen, sie hat nur 12 Verse zu singen, doch macht sie dies charakteristisch schön. Die Musica aber eröffnet die erste große Oper mit einem fünf Strophen zu vier Zeilen umfassenden Prolog, in dem sie ihre Macht beschwört. In Bayreuth heißt sie Ekaterina Krasko, sie singt ihren Prolog so innig, dass man auch mit ihr lächeln könnte – so wie sie während der Toccata in sich hineinlächelte.
Sie wusste schon, warum.
Frank Piontek, 6. Oktober 2025
Orfeo
Claudio Monteverdi
Markgräfliches Opernhaus Bayreuth
4. Oktober 2025
Dirigat: Antonius Adamske
Capella Mediterranea