Auch Elsa kann Verbrechen
Die Salzburger Osterfestspiele versuchen eine Drehung der Verantwortlichkeiten im „Lohengrin“.
Von irgendwo senkten sich ätherische Klänge auf den Orchestergraben des Großen Festspielhauses, wurden von den Streichern der Sächsischen Staatskapelle aufgenommen und mit jedem neuen Takt weiter und weiter gedehnt, bis sie alles umfassten; Musiker und Besucher gleichermaßen.
Mit wenigen Takten gelingt es Christian Thielemann einen höchst dynamischen Spannungsbogen zu eröffnen, der auch im weiteren Verlauf des Abends nicht abreißt. Der Klangzauberer konnte antreiben, martialisches krachen lassen oder große Bögen laufen lassen. Vor allem konnte er das Klangbild in seine Spektralfarben auffächern, abdämpfen und verflechten.
Christian Thielemann s Meisterschaft der Tempi Wechsel, seine Raffinesse der Pausensetzungen, von der Sächsischen Staatskapelle ohne Fehl umgesetzt, machten den Orchesterpart zum dominierenden Gipfel der Lohengrin-Premiere der Osterfestspiele 2022.
Die Übermacht der Klangbilder aus dem Graben war derart frappierend, dass man stellenweise den Eindruck erhielt, die Solisten dürften mit ihrem Gesang das Orchester begleiten und nicht umgekehrt. Dabei agierte Thielemann gewohnt Sänger-freundlich, ließ Raum und deckte nichts zu.
Die Chöre vom Salzburger Landestheater, der Staatsoper Dresden und der Bachchor Salzburg waren perfekt und auf Augenhöhe in dieses Klangbild eingebunden und stützten den Eindruck auf das Eindringlichste. Deshalb seien deren Vorbereiter Ines Kaun, Carl Philipp Fromholz, André Kellinghaus und Christiane Büttig besonders erwähnt.
Das Produktionsteam Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito stellte uns vor die Situation, dass Ortrud mit ihrem Verdacht, Elsa habe ihren Bruder bewusst im Walde ausgesetzt, doch richtig gelegen haben könnte.
Denn Elsa konnte nicht akzeptieren, dass sie als die Erstgeborene des im Brabant herrschenden Hauses wegen ihres Frauentums den Machtanspruch an den jüngeren Gottfried abtreten musste und darüber hinaus den ungeliebten Telramund heiraten sollte.
Elsa hatte aber nicht einkalkuliert, dass Ortrud aus ihrer Vermutung eigene Machtoptionen für ihren Partner Telramund ableiten könne.
Das waren aber derart heutige Überlegungen, dass die Handlung der Inszenierung aus dem Jahre 933 um fast eintausend Jahre in die Nähe der Jetzt-Zeit verschoben werden musste.
Das Ganze spielt sich auf einer stilisierten Szene von Anna Viebrock und Torsten Gerhard Köpf in einer düsteren Landschaft an einer Kanal-Schleuse des Schelde-Rhein-Kanals ab. Die Aggressoren aus Thüringen kamen auf Flössen und auch das Brautgemach kam aus der Schleuse in die Schelde geschwommen.
Das handwerklich hervorragend Inszenierte passte von den Personenführungen und den Textverständlichkeiten. Die Kostüme überbrückten den Zeitbereich zwischen 933 und dem ersten Weltkrieg.
In ihrer Hilflosigkeit beamt sich Elsa den Retter Lohengrin als Traumfigur, Selbstsuggestions-Objekt herbei, der ihr begrenzt aus der Patsche helfen sollte, was in eine große Massensuggestion des ersten Aufzugs mündete.
Der zweite Aufzug konnte diesen interessanten Ansatz nicht aufrechterhalten und begnügte sich in Bildern, mit welchen Strategien Populisten arbeiten und wie Feminismus zu Auswüchsen führen können.
Mit viel Effekten, die derzeit die Opernbühne beherrschen, wurde gearbeitet. Da brachten Solisten und Chorsänger die Requisiten mit auf die Szene und es musste auch unbedingt auf der Bühne koitiert werden
Der dritte Aufzug löste das Problem der Agierenden nahezu konventionell. Lohengrin verabschiedete sich in die Schelde und der ausgesetzte „Erbe von Brabant“ tauchte als Geretteter aus den Fluten auf, so dass sich Elsas Bemühungen als gegenstandslos erwiesen.
Die großen, dankbaren Solopartien waren durchweg gut besetzt gewesen.
Die Elsa von Brabant, von der Regie komplett ins Zentrum des Geschehens gerückt, wurde von Jacqueline Wagner mit intensiver Bühnenpräsenz und kraftvollem Gesang dargeboten. Unter der schweren Anklage des Brudermordes stehend, erträumt sie sich mit einer enormen musikalisch-dramatischen Steigerung den auf mysteriöse Art eingeführten Retter.
Mit Eric Cutler war für den Lohengrin ein in jeder Tonlage sicherer Heldentenor gewonnen worden, der jedes Wort kraftvoll, perfekt und verständlich sang.
In Lohengrin materialisiert sich das Wunder, das von Elsas und König Heinrichs Vorstellungskraft herbeigezaubert werde.
Mit imposanten Spitzentönen wartete die Ortrud von Elena Pankratova auf, als sie in Elsas Defensivsituation ihre Chance erkannte. Dabei gelang es ihr, die Stimme mit der von Jaqueline Wagner auf das wundersamste in Einklang zu bringen, so dass Wut und verführerisch-vergifteter Gesang auch immer überzeugend blieben.
Martin Gantners Telramund bietet mit robustem Bariton gesanglich und darstellerisch, was in der Rolle des betrogenen Betrügers stecken kann.
Mit sonorem klaren Bass und viel Wohlklang beeindruckte Hans-Peter König als Heinrich der Vogler in der plumpen Uniform eines Weltkriegs-Kommandeurs. Prägnant und dominant gestaltete er seine Figur.
Stimmlich kraftvoll agierte Markus Brück als Heerrufer
Gewaltige Begeisterungen im Großen Festspielhaus folgten der Aufführung, wobei die reichen lang anhaltenden Missfallenskundgebungen für das Produktionsteam nicht zu überhören waren.
Stehende Ovationen erhielt Christian Thielemann für seine außergewöhnliche Interpretation der Wagner-Komposition.
Bilder von Ruth Waltz
Thomas Thielemann, 10.4.2022