13. Februar 2022 Semperoper Dresden
Christian Thielemann ehrt mit der Sächsischen Staatskapelle die Opfer des Bombenterrors vom 13. Und 14. Februar 1945.
Als die Marianne und ich uns 1960 als Studenten in Dresden kennen lernten, uns ineinander verliebten und bald auch heirateten, standen Studium, Familiengründung mit dem ersten Sohn im Mittelpunkt, so dass die Erinnerung an die Bombennacht vom 13. zum 14. Februar 1945 die Dresdnerin noch nicht erkennbar belasteten.
Nach Jahrzehnte langem Wohnen in Leipzig und in einem nordhessischen Dorf nach Dresden zurück gekommen, meldeten sich bei der inzwischen Verrenteten die Erinnerungen an jene Nacht, als die Sechsjährige aus dem Keller des zerstörten Hauses in der Bergmannstraße befreit, zwischen ihrer Großmutter und der Mutter mit dem Kinderwagen der jüngeren Schwester durch das brennende Dresden irren musste. Befeuert war das, weil unser Erscheinungsbild, aus der ländlichen Idylle Nordhessens gekommen, des Dresdens der Anfangsjahre des Jahrtausends offenbar von der NPD nicht unwesentlich geprägt wurde.
Zumindest beeinflusste es unseren Eindruck vor allem in der Zeit um den 13. Februar. Da wurde demonstriert und zum Teil hasserfüllt um die Opferzahlen gerungen. Die Jahrelang als verbindlich geltenden Todeszahlen von 35 000 Opfern, von Historikern auf 25 000 Tote heruntergerechnet, wurden als zu niedrig empfunden und bis auf 200 000 Opfer argumentiert. Das jeder Umgekommene einer Zuviel war, galt ohnehin nicht als Argument.
Das hatte bei uns zunächst eine gewisse Überwindung erfordert, nicht ins hessische Idyll zurückzugehen. Vor allem die Initiativen unserer damaligen Nachbarin, der Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz, eine Therapie, kulturelle Erlebnisse und neues, gewissermaßen überbordendes Leid, glätteten die Situation.
Gelegentlich wird gefragt, warum ausgerechnet in Dresden die Erinnerung an den Februar 1945 so wach gehalten ist, obwohl doch viele Städte Deutschlands ähnlich intensiv zerstört waren?
Da ist zu wissen, dass die Stadt Dresden bis zum Februar 1945 kaum Bombenangriffe erlebt hatte und nur das Vorrücken der Truppen der „Roten Armee“ als der Auslöser des totalen Terrors anzunehmen ist. Dabei ist in der Bevölkerung auch der von einem Historiker geäußerte Verdacht lebendig, dass die Alliierten die unzerstörte Barockstadt, wie in Japan die Stadt Hiroshima, als Demonstrationsobjekt der Möglichkeiten ihres Zerstörungspotentials zurück gestellt hatten, um dann umso brutaler zuzuschlagen.
Mit würdigen Konzerten gedenkt die Sächsische Staatskapelle seit 1951 am 13. Februar der Opfer und der Zerstörung der Stadt als Mahnung, Zeichen der Versöhnung mit der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben in der gesamten Welt.
In diesem Jahr gehörte das Konzertprogramm Anton Bruckner (1824-1896).
Nachdem gegen Ende der 1880-er Jahre in Wien bei Anton Bruckner eine Herzschwäche und Diabetes diagnostiziert worden waren, zog er sich zunehmend aus seinen Ämtern an der Universität, dem Konservatorium sowie der Hofkapelle zurück, um eine Abrundung seines symphonischen Schaffen zum Lebensinhalt zu gestalten.
Die ersten Skizzen zu seiner neunten Symphonie hat der 62-jährige Anton Bruckner unmittelbar nach Abschluss der Komposition seiner achten Symphonie 1897 entworfen. Die Arbeit am ersten Satz wurde aber unterbrochen, weil Bruckner zunächst Revisionen seiner achten und seiner dritten Symphonien vornahm. Hinzu kamen in der Folge Überarbeitungen an den Symphonien Nummer zwei, Nummer eins und Nummer vier sowie der f-Moll-Messe.
Der erste Satz der neunten Symphonie, Feierlich, misterioso, war dann im Dezember 1893 fertig gestellt. Der zweiten Satz, Scherzo, bewegt, lebhaft-Trio, mit Entwürfen von 1889 fanden im November 1894, allerdings mit drei unterschiedlichen Ausführungen des Trios, ihre Vollendung. Die wahrscheinlich etwas kompaktere Arbeit am dritten Satz, Adagio, langsam, feierlich, war im Mai 1895 abgeschlossen.
Von dem von Bruckner geplanten vierten Finalsatz sind nach seinem Tode mehr als 500 Takte in Skizzen und Entwürfen aufgefunden worden, von denen 172 Takte vollständig bzw. 200 Takte zum Teil orchestriert sind. Der Schluss des Finales, bei Bruckner üblicherweise Ziel und Höhepunkt des Gesamtwerkes, fehlt allerdings vollständig.
Nicht verwunderlich, dass es zahlreiche Versuche gibt, mit Hilfe der hinterlassenen Relikte einen Bruckner-adäquaten Finalsatz seiner neunten Symphonie zu schaffen.
Wir besitzen eine Einspielung von Bruckners Neunter der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle aus dem Jahre 2012 mit einer von dem italienischen Komponisten Nicola Samale (*1941) unter Beteiligung drei weiterer Musikwissenschaftler fertig gestellten Rekonstruktion des Finalsatzes. Auch wenn Teile von authentischen Skizzen gekommen sein mögen, ist es günstigstenfalls eine Illusion von „Bruckner“, bleibt ein schwacher Abklatsch.
Die Erkenntnis des Schwerkranken, dass er die Kraft zur Vollendung des Finales seiner Neunten nicht aufbringe könne, beschäftigten Bruckner, so dass er den Vorschlag enger Vertrauter aufnahm, die Symphonie statt mit einem vierten Satz mit seinem Te Deum abzuschließen. Er hatte allerdings Bedenken, die Symphonie, die in d-Moll steht, in C-Dur des „Te Deum“ enden zu lassen. Er habe auch den Vertrauten eine Überleitungsmusik die vom E-Dur der Schichtung des Adagios zum C-Dur führte, vor gespielt. Bruckners Schüler August Stradal (1860-1930) habe die Überleitungsmusik zwar nach dem Gedächtnis notiert, noch bleibt sie aber verschollen.
Im Gedenkkonzert wurden von der Sächsischen Staatskapelle mit dem Dirigat seines Chefdirigenten Christian Thielemann die drei Sätze der Symphonie mit dem Te Deum kraftvoll und zugleich sensibel hintereinander dargeboten.
Das Te Deum Bruckners reicht mit seiner formalen und ästhetischen Konzeption weit über die Grenzen reiner Kirchenmusik hinaus und gilt als zentrales Dokument seiner Frömmigkeit. Komponiert im Jahre 1881 überarbeitete Bruckner das Chorwerk in der Zeit von 1883 bis 1884 wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Arbeit an seiner siebten Symphonie.
Dem Anlass der Aufführung entsprechend, verzichtete Christian Thielemann auf eine effektvolle Interpretation der Symphonie. Mysteriöser lassen sich die Eröffnungen der Blechbläser kaum denken, wie im Konzert gespielt. Präzise, fast schroff wurde dann das wuchtige Hauptthema des ersten Satzes in einer Art herausgearbeitet, wie es nur Klangkörper vom Range der Dresdner Staatskapelle können. Mit wohlüberlegter Disposition staffelte der Dirigent die Höhepunkte und spart das Maximum für den Schluss auf. Gekonnt glättete er formale Brüche mit organischen Tempofreiheiten und ließ sich von seinem intuitiven Formgespür leiten.
In der Folge entstand bei mir der Eindruck, dass der Dirigent Ansätzen nachgespürt habe, was Bruckner an der Komposition bei längerer Lebenszeit noch geglättet hätte.
Das Scherzo mit dem markanten Paukenmotiv ließ Christian Thielemann drängend, mit straffen Tempi spielen, so dass der Eindruck eines Totentanzes entstand. So ist die Interpretation nicht so sehr als eine Verklärung, als vielmehr ein Auflehnen, ein Ankämpfen gegen den Tod zu empfinden. Besonders fulminant empfand ich die Betonung der von Bruckner in die Partitur regelrecht eingeschmuggelten Bauerntänze.
Umso exzellenter traten dann im Adagio die Möglichkeiten der Klangschönheiten des Orchesters hervor. Die Verbindungen zu den Tristan- und Parsifal-Motiven des ersten Themas weckten eine unendliche Sehnsucht nach Ruhe und einem Abschluss gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Aber auch hier schlichen sich Momente der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung in die Darbietung ein. Die Angst des Menschen vor dem Tode meldet sich
Christian Thielemann gestaltet in diesem Pseudo-Finalsatz Klangdispositionen, Übergänge und Stimmenbalancen von geradezu überirdischer Schönheit und Homogenität. Sein Gespür für die Dramatik der doch heiklen Partitur Bruckners ist einfach einzigartig und dürfte gegenwärtig kaum zu überbieten sein.
Das „Te Deum“ entwickelte Christian Thielemann mit den Musikern der Staatskapelle auf das feinste ausbalanciert und mit einer mitreißenden Dynamik, die von verzagtem Piano bis zum gewaltigen Fortissimo reichte. Die Streicher schufen für die Bläser und vor allem für den Sächsischen Staatsopernchor Dresden mit großartigen Klangfarben einen stabilen Klangteppich. Gefreut haben uns die Horn-Soli von Robert Langbein und die Vorstellung des rumänischen Gast-Konzertmeisters Dragos Manza am Ersten Pult.
Dem Chor kam ohnehin eine außergewöhnliche Bedeutung zu, hatte ihm doch Bruckner mit breiten Forte-Passagen und Dissonanzen komplexe Aufgaben zugeschrieben, die vom Sächsischen Staatsopernchor mit Klangkraft und präziser Dynamik überzeugend gelöst wurden. Nie war in einer mittleren Lautstärke gesungen worden, stets blieben Kontrast und Intimität zutreffend ausgebildet. Wenn Kraft entfaltet wurde, geschah das immer mit Formgefühl und stimmlicher Konzentration, so dass auch die Soprane nicht in problematische Randlagen gerieten. Der Chor war von André Kellinghaus auf das bewundernswerteste auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet gewesen.
Die Stimmen der Solisten waren glänzend aufeinander abgestimmt und für die nachklassische Schlichtheit ihrer Passagen hervorragend geeignet. Die Sopranistin Camilla Nylund faszinierte mit ihrem weichen, leuchtenden Timbre, ihren klaren Spitzentönen und ihrem starken Ausdruck. Dazu passte hervorragend der klangsatte, samtige Mezzosopran von Elena Zhidkova, der gravitätische Bass von Franz-Josef Selig und der höhensichere sensible Tenor von Benjamin Bruns, der vor allem mit dem souverän dargebotene Tenor-Solo im „Te ergo quaesumus“ imponierte. Gleichwie, ob die Solisten zu zweit, zu dritt oder als Quartett sangen, bestach die Konvergenz der Klänge.
Mit einer Minute des Gedenkens an die Opfer der Terrorangriffe wurde das würdige und berührende Konzert abgeschlossen.
Bildrechte: Sächsische Staatskapelle Dresden ©Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 15.2.2022