Dresden: „Falstaff“, Giuseppe Verdi

© Jochen Quast

Nach der erfolgreichen Uraufführung seiner Oper Otelo im Jahre 1887 soll Giuseppe Verdi (1813-1901) geäußert haben, keine Note mehr schreiben zu wollen. Aber so einfach kommt man aus einem intensiven Schaffensprozess nicht heraus und der verwitwete Maestro, umsorgt von ausgezeichnetem Personal, begann sich zu langweilen. Als er von seinem jüngeren Freund und Librettisten Arrigo Boito (1842-1918) beim Notenkritzeln erwischt worden war, kam es zu einem Komplott Boitos mit Verdis Verleger Giulio Ricordi (1840-1912), weil nämlich im Werkverzeichnis des Komponisten noch die erfolgreiche komische Oper fehle. Folglich packten sie den inzwischen 76-Jährigen bei seiner Freude an den Stoffen William Shakespeares (1564-1616) und interessierten Verdi an der Bühnenfigur des Sir John Falstaff, die allein in vier Bühnenstücken des Dichters eine Bedeutung hat.

Trotz seiner scheinbaren Zwecklosigkeit in den beiden Heinrich IV.- und Heinrich V.-Historien ist Falstaff in der Shakespeare-Forschung neben Hamlet die meistbehandelte Figur. Im Drama Heinrich IV.-Teil 1 tritt Falstaff als Trinkkumpan sowie Bordellbegleiter des Prinzen Hal, des späteren Heinrich V. auf und machte ihn auf diese Art zum Manne. Ursprünglich sollte die Bühnenfigur den Namen des als Vorbild dienenden Ritters John Oldcastle tragen. Einflussreiche Nachkommen des Kirchenrebellen Sir John Oldcastle (denkbar 1378-1417) der als ketzerischer Lollardenführer öffentlich verbrannt worden war, verhinderten bereits in der Entstehungsphase des Dramas eine Bloßstellung ihres Namens. Da der Theaterdichter Shakespeare stets historische Bezüge verwendete, erhielten die Personen in den Schauspielen deshalb den Namen Falstaff. Er war von der Person des Sir John Fastolf (1380-1459) abgeleitet, der durchaus zu den bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit gehört hatte. Dieser Ritter war Landbesitzer, Oberbefehlshaber unter anderem im Krieg gegen Jeanne d’Arc sowie ein früher Industrieller und aktiver Förderer der Literatur gewesen. Im zweiten Stück Heinrich IV. war der Prinz auf dem Wege zum künftigen König. Aus moralischen Gründen hatte sich der angehende Heinrich V. von Falstaff getrennt und bereitete sich auf seine Herrschaft vor. Beide begegnen sich im Stück nur zweimal recht kurz. Falstaff blieb der eitle, prahlerische Ritter in schlechter Gesellschaft, sicherte aber durch seinen Witz und das Charisma die Popularität der Bühnenfigur, denn das Publikum entwickelte eine Vorliebe für diesen in seiner Fehlerhaftigkeit liebenswerten Schurken. Im Drama Heinrich V. wird deshalb von Shakespeare dem inzwischen umgekommenen Falstaff ein längeres Totengedenken gewidmet.

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Der Dramatiker John Dennis (1657-1734) hatte angeblich herausgefunden, dass die Theatergruppe Lord Chamberlains Men unter Shakespeares Leitung im Jahre 1600 am Hofe der Königin Elisabeth I. die beiden Stücke Heinrich des IV. aufgeführt habe. Die Königin sei von der Weisheit und dem Charme der Figur des Sir John Falstaff so begeistert gewesen, dass sie umgehend seine Auferstehung anordnete. Shakespeare, oder wer immer sich hinter dem Dichter verbarg, musste umgehend ein Stück vorlegen, indem sich aber Falstaff in eine Frau verlieben solle. So sei sein viertes Falstaff-Stück Die lustigen Weiber von Windsor mit den zahlreichen Anspielungen auf die Königin entstanden.

Inspiriert von den Heinrich IV.-Dramen und der Handlung der lustigen Weiber von Windsor begann Boito ein lebensphilosophisches Libretto zu entwerfen und dabei Verdi in den Sog der Arbeit einzubeziehen. Befeuert vom Verleger Ricordi war das, oft nicht zu Unrecht, als Oper von Arrigo Boito mit Musik von Giuseppe Verdi deklarierte Werk im Jahre 1893 reif für eine Uraufführung.

Der italienische Opernregisseur Damiano Michieletto hatte bereits im Jahre 2013 Verdis Falstaff in Salzburg sehr aufwendig in die neuere Zeit geholt: ein mittelloser ehemaliger Opernsänger hing im Mailänder Altenheim casa Verdi den Erinnerungen mit viel Traumsequenzen früherer Falstaff-Darstellungen nach und visionierte sogar seine eigene Beerdigung.

Mit dem am Rande seiner Existenz befindlichem Rockstar Sir John ging es in der Neuinszenierung der Semperoper Dresden handfester zu, zumal die Komödie durchaus ihre aktuelle Bedeutung hat. Es gibt Menschen, die sich nach einem erfolgreichen Berufsleben, ungenügend auf die Zeit nach dem Erwerbsleben vorbereitet haben. Wenn dann die intellektuellen Möglichkeiten einer Weiterführung des Alltags mit Alles hört auf mein Kommando fehlte, die Erfolgserlebnisse ausblieben, fallen sie regelrecht in ein Loch. Dass Betroffene dabei durchaus auch überschießende Situationen erzeugen können, ihren Status falsch einschätzen und zur Witzfigur werden, war schon zu Shakespeares Zeiten nicht unproblematisch. Immerhin war der Sir John Fastolf (1380-1459) zu den Zeiten der Könige Heinrich IV. und V. ein bedeutender Mann gewesen, bevor er um seinen reichen Landbesitz gebracht worden war. In der Zeit unserer steigenden Lebenserwartung werden die Falstaff-Sachverhalte in unterschiedlichsten Ausprägungen in breiteren Umfang zu finden sein. Deshalb nicht verwunderlich, dass sich am Premierenabend das jüngere Publikum über die Bühnenfiguren des Damiano Michieletto köstlich amüsierte, während mancher Babyboomer nachdenklich den Kopf einzog.

Michieletto und sein Team hatte die Handlung in unsere Zeit geholt und in einem etwas heruntergekommenen Club verortet, in dem der über den Zenit seiner musikalischen Fähigkeiten gekommene Falstaff mit seinen Partnern Bardolfo und Pistola um Publikum rang. Falstaffs Lösungsansatz, wie man der Misere begegnen könnte, ist allgemein bekannt, so dass das etwas schäbige Podium der Band in den hinteren Bühnenbereich entsorgt werden konnte.

Für die Aktionen der ersten Akte hatte der Bühnenbildner Paolo Fantin auf der Spielfläche verfahrbare Säulen angeordnet, die beliebige Handlungsräume symbolisieren konnten und die auch die Agierenden dort platzierten. Von Sängern verschobene Sitzgruppen sorgten, dass Örtlichkeiten unproblematisch verändert werden konnten. Mit diesen handwerklichen Glanzleistungen sicherte Fantin dank des umbaufreien Ablaufs das Tempo der Inszenierung. Interessanteweise wusste man als Zuschauer immer, wo etwas passierte. Mit den auf den Podesten befindlichen Solisten übernahm die Technik einen nicht geringen Teil der Personenführung. Die turbulenten Szenen bereiteten mit ihrem Treiben Spaß, zumal vom Beginn an klar war, dass der Übeltäter seine Strafe bekommen werde, wie auch immer. Sie erreichten ihren Kumulationsbereich, als das Ehebett der Fords in den Raum geschoben wurde und Frau Alice den ahnungslosen Falstaff massiv anmachte. Aus der Warnung der Verschwörerinnen und der anstürmenden Suchtruppe entwickelte sich eine Slapstick-Szene vom Feinsten. Das ohnehin verwüstete Bett wurde nach oben gezogen und überschüttete den fliehenden Falstaff mit leeren Getränkedosen.

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Die Kostüme der Agathe MacQueen waren, während sich die Handlung entwickelte, perfekt der Zeit und der gesellschaftlichen Zugehörigkeit der Figuren angepasst. Für das Finale des dritten Aktes ließ sie ihrer Phantasie freien Lauf und schuf allen Beteiligten opulente Outfits. MacQueens Garderobenständer übernahmen im dritten Aufzug auch die Aufgaben der Raumteiler.

Unter der Musikalischen Leitung von Daniele Gatti wurde hervorragend musiziert und gesungen. Gattis Dirigat entfaltete gleichermaßen Ausdruckskraft und Melancholie. Er setzte auf eine gestochen präzise Interpretation und gab jeder Tonalität sowie jedem Tempo der brillant-schnellen durchsichtig instrumentierten Partitur den entsprechenden Raum. Die vielen Stimmungswechsel waren reaktionsschnell mit einem kammermusikalischen Grundton umgesetzt. Er nahm sich aber auch die Zeit für Ruhepunkte, um lyrische Passagen auszukosten. Die Musiker der Sächsischen Staatskapelle brachten die lautmalerischen und subtilen Farben der Partitur zum Klingen. Sie setzten Gattis Vorgaben akribisch sowohl im zart angedeutete Pianissimo, den erschütternden Fortes als auch den angeschwollenen Tremolo um, ohne sich vor halsbrecherischen Tempi zu fürchten. Gatti hatte in jeder Phase Sänger und Orchester gleichermaßen im Griff. In den komplizierten Ensembles wahrte er die Übersicht, selbst wenn unterschiedliche Gruppen zur gleichen Zeit abweichende Metren sangen.

Mit Berechtigung steigerte sich deshalb der Schlussapplaus, als Daniele Gatti die Bühne betrat, zu stehenden Ovationen.

Nicola Alaimo meisterte seine Titelrolle mit staunenswerter Souveränität und orientierte die Komik seiner Figur an ihrer tragischen Fallhöhe. Lebhaft und unbeschwert, mit wenig Reue oder Trauer, setzte Alaimo seine reiche Palette an Ausdrucksmitteln ein. und bot eine meisterhafte Darstellung mit Ausstrahlung, Ausdruck und Klangfarbe. Alaimo sang kraftvoll, nie polternd und war näher an Boitos Text, als die Regie erwarten ließ. Er zeichnete sich durch stimmliche Sicherheit, lockere Bühnenmanier und kristallklare Aussprache aus. Mit mildem Humor, tiefsinnig zwischen Selbstironie und Selbstmitleid variierend, trug er seine Weisheiten und philosophischen Ergüsse vor. Sein Monolog Lʼonore und Mondo latro geriet zu einem der spannungsgeladenen Höhepunkte des Abends. Auflockernd seine Auseinandersetzungen mit den intrigierenden, etwas verlogenen Bandmitgliedern Bardolfo von Simeon Esper und des Pistola von Marco Spotti. Besonders das Duett mit dem Beinah-Partner Ford-Fontana, der wie ein Journalist wirkte, und vor allem das Anstimmen der Schlussfuge begeisterten. Im Libretto Boitos ist Falstaff zwar ein abgelebter mittelloser Ritter, aber mit einem berechtigten Anspruch auf das Establishment von Windsor. In der Inszenierung Michielettos gab es aber keinen Hinweis auf seinen Rang in der Gesellschaft, so dass die Kluft zwischen den Welten des etwas spießigen Bürgertums und den abgehalfterten Musikern so groß war, dass sich der Kern der Komödie verwischte.

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Was die Lustigen Weiber anging, es waren eher Vorstadt-Weiber, so passten die vier Stimmen perfekt zusammen.

Alice Ford von Eleonora Buratto bezauberte mit ihrer weiblichen Anmut und großer Eleganz. Sie sorgte kraftvoll mit ihrem glanzvoll wandelbaren Klang für sopranistische Dominanz im Stimmenkonzert und heizte mit dem Feuer der Vergeltung den spielerischen Übermut an.

Die Meg Page der Nicole Chirka war trotz der Benachteiligung ihrer Rolle mit atemberaubenden wohlplatzierten Klangfarben ihres Mezzosoprans bemerkenswert.

Der Mezzosopran der Kanadierin Marie-Nicole Lemieux als Mrs. Quickly war mit umfangreichen Comedy-Aspekten versehen, wurde aber nie zur Karikatur. Sie balancierte perfekt auf dem schmalen Grat zwischen der lyrischen Komödie und der Burleske. Mit ihrem Glanzstück Giunta allʼ albergo della Giarrettiera im zweiten Akt brillierte ihrer betörend volltönende Stimme.

Eine darstellerisch-virtuose Glanzleistung lieferte das junge Liebespaar Nannetta und Fenton mit ihren Liebesspielen. Rosalia Cid verschaffte mit leichter, zart ausschwingender Stimme und engagiertem Spiel ihrer schwer umkämpften Lieben den entsprechenden Nachdruck, hatte aber auch ihre Freude an der Intrige. Juan Francisco Gatells Fenton passte perfekt mit seinem leidenschaftlichen Spiel und dem leichten, schmelzenden Tenor.

Einen fulminanten eifersüchtigen Ford sang und spielte Lodovico Ravizza, besonders als er mit kraftvoller Stimme den Monolog È sogno? o realtà? seines Inkognito Fontana zu einem virtuosen Amoklauf im Baritonfach gestaltete

Didier Pieri komplettierte mit seinem lauten und lustig singenden Spieltenor als Doktor Cajus die Nebenrollen.

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In der wenig humorvollen Finalszene wollte die Stadtgesellschaft den unbequemen Falstaff eigentlich in einem Pflegeheim entsorgen. Mitglieder der Komparserie und des von Jan Hoffmann einstudierten Sächsischen Staatsopernchor bedrängten deshalb den Erniedrigten mit Rollstühlen, Krücken, Gehhilfen und anderem Pflegeaccessoire. Aber der Anti-Held erhob sich aus dem Rollstuhl, schob das Gestänge mit den Infusionen zur Seite und setzte zu seiner berühmten Gardinenpredigt an. Plötzlich wurde alles gut und alle liebten sich. Das Plakat mit dem jungen Sir-John-Star wurde gerichtet, Autogrammkarten tauchten auf und das renovierte Podium der Band wurde eingefahren. Ein Neustart war möglich.

Ob die Welt mit der fulminanten Schlussfuge tatsächlich wieder in die Fugen geraten ist, muss bezweifelt werden. Was mit der Intrige der Frauen an den Tag gebracht worden war, ist das problematische Treiben der Menschen überhaupt und das Lachen darüber ist nicht nur heiter, sondern auch sarkastisch. Denn das Tutto nel mondo e burla hat mit unserer Wirklichkeit wenig zu tun.

Thomas Thielemann 6. Oktober 2025


Falstaff
Giuseppe Verdi
Semperoper Dresden

Premiere am 5. Oktober 2025

Inszenierung: Damiano Michieletto
Musikalische Leitung: Daniele Gatti
Sächsische Staatskapelle Dresden

Folgevorstellungen: 8. Oktober, 12. Oktober, 15. Oktober, 17. Oktober, 24. Oktober 2025