Stuttgart: „Carmen“, Georges Bizet

Spannendes modernes Musiktheater von allererster Güte stellt Sebastian Nüblings bereits aus dem Jahre 2006 stammende Inszenierung von Bizets Oper Carmen dar, die jetzt an der Staatsoper Stuttgart mit großem Erfolg wiederaufgenommen wurde. Diese ausgesprochen kurzweilige und trefflich durchdachte Produktion, die in all den Jahren nichts von ihrer Brillanz verloren hat, ist immer wieder sehenswert. Nübling hat zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Muriel Gerstner ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme besorgte Rebecca Bienek.

Zuerst geht es dem Regisseur einmal darum, jede Art von herkömmlicher spanischer Folklore nachhaltig zu eliminieren. Damit hat er gut getan. Die Präsentation der Handlung in einem zeitgenössischen Rahmen tut gut. Mit konventionellen Sehgewohnheiten wird hier gründlich aufgeräumt. Das  erweist sich bereits zu Beginn: Die sich schon während der Ouvertüre abspielende Eröffnungsszene zeigt Don José in seiner recht heruntergekommen wirkenden Behausung. Im Unterhemd sitzt er vor dem Fernseher, über den immer wieder ein allwissendes Auge flimmert.

(c) Staatsoper / Siegmund

Big Brother is watching you. In seinem Nacken sitzt ihm ein von der Regie dazu erfundenes, clownesk  anmutendes grünes Männchen, und auf dem Boden liegt die von ihm ermordete Carmen in einem grauen, eleganten Glitzerkleid. Dieser grünen Gestalt, die sich durch die gesamte Aufführung zieht, hat das Regieteam den Namen Surplus gegeben. Dieser Name entstammt der Psychologie und bezieht sich auf die Surplus- Realität, die nach der Angabe des Stuttgarter Dramaturgen Miron Hakenbeck eine subjektive und imaginierte Dimension der Realität beschreibt. Dieses grüne Männchen ist als die böse Seite des Don José zu verstehen. Für seinen Träger, mit dessen Psyche es untrennbar verbunden ist,  bleibt es zwar stets unsichtbar, aber dennoch immer spürbar. Immer wieder treibt es ihn zu den verschiedensten Handlungen an oder tritt dabei sogar an seine Stelle. Unter Surplus` Ägide wird Tragisches oftmals ins Komische gewendet. Auch zur Ermordung Carmens treibt dieses Wesen Don José an. Letzterer versucht schließlich, sich von Surplus zu befreien. Sein  diesbezügliches Streben ist indes zum Scheitern verurteilt. Das grüne Männchen, das der ganzen Inszenierung seinen ganz persönlichen Stempel aufdrückt, wird für immer mit ihm verbunden sein.

Im Übrigen konzentriert sich die Produktion ganz auf die vier Protagonisten Carmen, Don José, Micaela und Escamillo, die dabei ganz auf Don José zu beziehen sind. Im Chor und Kinderchor sieht man ständig Doppelgänger der vier Hauptpersonen agieren. Allesamt sind sie Gegenbilder zu dem stark in sich gespaltenen Don José. Das gilt sowohl für die sehr dominant wirkende Soldatin Micaela als auch für den im Frack auftretenden Conférencier Escamillo. Geschickt spielt Nübling mit unterschiedlichen Realitätsebenen und verortet das Geschehen in einer unheimlichen und rätselhaften Traumwelt.

(c) Staatsoper / Siegmund

Dabei setzt er in verstärktem Maße auf Rückblenden. Immer wieder wird Carmen von Don José ermordet. Dabei überlässt der Regisseur es oft den Zuschauern, sich ihre eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Der Charakter dieser Vorgänge ist nicht äußerer, sondern lediglich innerer Natur. Sigmund Freud lässt grüßen. Gleich dem grünen Männchen erscheinen die Schmuggler als Clowns, deren Anliegen es ist, Don Josés Dasein zu hinterfragen und ihm einen anderen Lebensplan aufzuzeigen. Nach Bekunden  von Dramaturg Hakenbeck stehen diese Clowns für eine Grenzüberschreitung ins Unbewusste. In diese Richtung geht auch diePassage du désir – zu Deutsch: Korridor des Begehrens -, die sich am Ende des zweiten Aktes im Hintergrund öffnet und Don José den Zugang zu einem bis zuletzt unbekannt bleibenden Ort eröffnen will. Führt sie vielleicht in die Freiheit?

Der Begriff Freiheit spielt in Nüblings Regiearbeit eine zentrale Rolle. In Carmen und Don José treffen verschiedene Arten von Freiheit aufeinander, die sich nach einem erbitterten Kampf um die Dominanz in der Beziehung letzten Endes nicht miteinander vereinbaren lassen, was schließlich die finale Katastrophe auslöst. Carmen sieht ihre unbedingte Freiheit auch in einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung als den prägenden Punkt an. Für Don José dagegen ist das Begehren untrennbar mit einem totalen Besitzanspruch verbunden, den er vehement vertritt. Und diesem tritt die ungebunden sein wollende Carmen strikt entgegen. Gleichzeitig provoziert sie damit seine gewalttätigen Phantasien. Resigniert muss er schließlich erkennen, dass sie für ihn verloren ist; sie vollständig zu besitzen vermag er nicht. Sie war die ganze Zeit nichts anderes als eine Projektionsfläche für seine obsessiven Triebe. Seine verletzte Männlichkeit ist es, die ihn am Ende zum Mord an Carmen treibt. Sein Selbstbild platzt wie eine Seifenblase. Dazu trägt auch seine offen an den Tag gelegte Eifersucht auf Escamillo einen großen Teil bei. Das war alles sehr überzeugend und trefflich umgesetzt.

(c) Staatsoper / Siegmund

Auf hohem  Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Mit gut fokussiertem, sinnlich eingefärbtem und recht tiefgründig klingendem Mezzosopran sang Rachael Wilson eine famose Carmen, die sie auch trefflich spielte. Eine phantastische Leistung erbrachte Atalla Ayan, der sich mit seinem vorbildlich italienisch fundierten, äußerst kraftvollen und intensiv geführten Tenor in die erste Liga der Vertreter des Don José einreihte. Mächtig trumpfte Adam Palka in der Partie des Escamillo mit ausladendem, prägnantem und ausdrucksstarkem Bass auf. Die Micaela von Josefin Feiler zeichnete sich durch eine solide Körperstütze ihres angenehmen Soprans sowie eine feine Linienführung aus. Carmens Freundinnen Frasquita und Mercedes waren bei den voll und rund singenden Laia Vallés und Maria Theresa Ullrich in bewährten Händen. Solide gab Jorge Ruvalcaba den Morales. Eine ordentliche Bassstimme brachte Gerard Farreras in die Rolle des Zuniga ein. Passabel, wenn auch nicht außergewöhnlich klangen Heinz Göhrig (Dancaire) und Alberto Robert (Remendado). Eine darstellerische Glanzleistung gewann der Schauspieler Luis Hergón dem grünen Männchen Surplus ab. Einen guten Eindruck hinterließ der von Bernhard Moncado einstudierte Chor und Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Julia Jones hatte im Jahre 2006 bereits die Premiere dieser Produktion dirigiert. Nun kehrte sie an das Pult der Stuttgarter Staatsoper zurück und beglückte zusammen mit dem erstklassig disponierten Staatsorchester Stuttgart das zahlreich erschienene Publikum mit einer leidenschaftlichen Tongebung und großer Durchsichtigkeit des Orchesterklangs, wobei sie insgesamt nicht allzu schnelle Tempi anschlug.

Fazit: Eine legendäre Produktion, deren Besuch die Fahrt nach Stuttgart in jeder Beziehung einmal mehr voll gelohnt hat!

Ludwig Steinbach, 24. April 2023


„Carmen“

Georges Bizet

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 22.10.2006

Besuchte Aufführung: 23.4.2023

Inszenierung: Sebastian Nübling

Bühnenbild und Kostüme: Muriel Gerstner

Szenische Leitung der Wiederaufnahme: Rebecca Bienek

Musikalische Leitung: Julia Jones

Staatsorchester Stuttgart