Livestream vom 19.12.2021
Nachtzirkus und Alpträume
Lange Zeit musste man in Stuttgart auf Wagners Ring des Nibelungen verzichten. Eine Neuproduktion der Tetralogie war längst überfällig. Nun ist es endlich soweit: An der Stuttgarter Staatsoper wird diese und nächste Spielzeit ein neuer Ring geschmiedet. Wieder nehmen sich verschiedene Regisseure des Werkes an. Rheingold, Siegfried und Götterdämmerung liegen in den Händen von jeweils einem Regisseur, bei der Walküre gehen sogar drei Teams – für jeden Aufzug eines – ans Werk. Der Siegfried erfährt dabei keine Neuinszenierung. Die alte Produktion von Jossi Wieler und Sergio Morabito wird wiederaufgenommen. Ob der neue Stuttgarter Ring das hohe Niveau seines Vorgängers halten oder diesen sogar übertreffen wird, wird man sehen. Mit dem Rheingold ist der Staatsoper Stuttgart jetzt jedenfalls ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Auftakt gelungen.
Überzeugend war schon die Inszenierung von Stephan Kimmig im Bühnenbild von Katja Haß und Anja Rabes‘ Kostümen. Das Regieteam siedelt das Werk in einem Zirkusambiente an. Den Anfang – noch vor Öffnen des Vorhangs – bildet ein Passus aus Wagners revolutionären Schriften: Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge…Das Hauptaugenmerk dieses im Jahre 1848 von dem späteren Bayreuther Meister zu Papier gebrachten Satzes liegt auf dem Wort Zerstören. Dem trägt Kimmig Rechnung, wenn er der eigentlichen Handlung eine Katastrophe vorangehen lässt. Das kann durchaus eine Revolution gewesen sein, die dem Zirkus schwere Schäden zugefügt hat. In ständiges Dunkel gehüllt spielt sich ein wahrer Alptraum vor den Augen des Zuschauers ab. Es ist ein Nachtzirkus, in dem sich wahre Spukgestalten tummeln und in dem Brüche verstehbar gemacht werden. Der Direktor dieses maroden Zirkusbetriebes ist Wotan, der seine frühere Größe verloren und nicht mehr viel zu sagen hat. Er verliert sich in Rollenspielen, in denen er gefangen ist. Einen Speer versagt ihm der Regisseur, dafür hat er noch beide Augen. Auch seine ebenfalls dem Zirkus angehörige Familie hat etwas Dunkles an sich.
Die verschiedenen Charaktere sind recht ambivalent gezeichnet. Die Götter langweilen sich in diesem Nachtzirkus. Zum Zeitvertreib trinken sie Energy-Drinks und Bier und sehen zwei im Hintergrund ihre Künste darbietenden Artistinnen zu. Im Gegensatz zu Wotan zeigt der Alkohol bei der torkelnden Fricka bereits seine Wirkung. Und die sehr intensiv gezeichnete Freia scheint sogar sehr viel Hochprozentigeres zu genießen. Donner und Froh treiben Sport, bewegen sich in kleinen Tretwagen fort und rudern. Wenn am Ende nach dem Gewitterzauber Regenmäntel an sämtliche Beteiligten verteilt werden, zieht Donner sein Regencape als einziger wieder aus. Als Gott des Donners braucht er ein solches nicht. Die in gelben Gabelstaplern auftretenden, auf Kothurnen gehenden Riesen sind Eigentümer einer Baufirma. Wenn Freia sich in Fasolt verliebt, wird offensichtlich, dass sie am Stockholm-Syndrom leidet. So schmiegt sie sich einmal liebevoll an ihren Entführer. Als Fafner seinen Bruder mit einem Messer ermordet, reagiert sie betroffen. Der gänzlich schwarz gekleidete Loge hat etwas Diabolisches an sich. Er wird von Kimmig als intellektueller moderner Philosoph vorgeführt, der auch mal sowohl den Tarnhelm als auch den Ring in Händen halten darf. Da spürt man förmlich, wie es ihm schlagartig bewusst wird, welche Macht er da in Händen hält. Trotzdem reicht er den Ring an Wotan weiter. Alberich erscheint zunächst als langhaariges Mitglied der Unterschicht. In der dritten Szene wandelt er sich zu einem neureichen Emporkömmling mit abgeschnittenen Haaren. Im vierten Bild wird er von den Göttern auf einer Wurfscheibe herumgedreht. Wotan und Loge macht es offenbar Spaß, ihn zu quälen. Die von Kindern dargestellten Nibelungen gehen ihrer Arbeit an einem Tisch nach. Mime erscheint als Clown.
Die Rheintöchter sind Schülerinnen eines Eliteinternats, die sich den Werten der Friday- for- Future-Bewegung verbunden fühlen. Ihrer Langweile kann auch das ständige Hantieren mit Handys nicht abhelfen. Das gelingt erst Alberich, den die elegant gekleideten Mädchen für ein Experiment funktionalisieren, dessen Ziel es ist, die Zirkuswelt wieder zu beleben. Eine von ihnen holt schließlich das Rheingold aus dem Safe des Vaters. Im Folgenden reflektieren sie über den Sinn des Goldes und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten. Dass Alberich gewalttätig reagiert und sich mit dem Gold in einer Schubkarre davonmacht, haben sie indes nicht einkalkuliert. Im Folgenden sind die Rheintöchter auch an Stellen, an denen Wagner für sie gar keinen Auftritt vorgesehen hat, immer wieder präsent. Sie beobachten das Geschehen und machen sich eifrig Notizen. Das Experiment ist noch nicht abgeschlossen. Die auf einem Fahrrad auftretende Erda deutet der Regisseur als Klimaschutz-Aktivistin, die sich stark mit den Werten einer Greta Thunberg identifiziert. Spätestens hier wird deutlich, dass es in dieser Inszenierung auch um Naturschutz geht. Walhall bleibt in dieser Produktion unsichtbar. Die Götterburg ist symbolisch als geistiger Ort einer Möglichkeit zur Verbesserung der Welt zu verstehen. Die ebenfalls nicht sichtbare Regenbogenbrücke interpretiert Kimmig als die dazu erforderlichen Mittel. Am Ende tragen die Rheintöchter ein Transparent mit der Aufschrift Lasst alle Feigheit fahren auf die Bühne. Das erinnert sehr stark an Dante und ist als Aufforderung zu deuten, sämtliche vorhandenen positiven Energien zu sammeln und an diese zu glauben. Das war alles gut durchdacht und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht.
Insgesamt zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist hier Goran Juric zu nennen, der mit wunderbar italienisch fokussiertem, sonorem und ausdrucksstarkem Bass einen erstklassigen Wotan sang. Der über einen kraftvollen und gut gestützten Tenor verfügende Matthias Klink zog vokal jede Facette des Feuergottes Loge, dem er auch darstellerisch ein glaubhaftes Profil verlieh. Eine schauspielerische Glanzleistung erbrachte Leigh Melrose in der Partie des Alberich. Insbesondere mutete bewunderungswürdig an, wie er noch auf der Wurfscheibe hängend problemlos sang. Rein gesanglich war er indes weniger überzeugend. Über weite Strecken sang er fundiert und recht solide. Leider versteifte er sich allzu oft auf reines Charakterisieren, wobei er häufig vom Körper wegging und mehr sprach als dass er sang. Da vermochte der wunderbar im Körper singende Mime von Elmar Gilbertsson schon besser zu gefallen. Rachel Wilson war eine stimmstarke, robuste Fricka. Mit der Freia wagte Esther Dierkes einen ersten, durchaus gelungenen Schritt in das dramatische Wagner-Fach. Sehr emotional und mit enormer innerer Beteiligung glänzte Stine Marie Fischer in der Rolle der Erda. Mit hellem, bestens fundiertem und elegantem Bassklang stattete David Steffens den Fasolt aus. In nichts nach stand ihm der markant und profund singende Fafner von Adam Palka. Pawel Konik erwies sich mit seinem hervorragend fundierten, klangvollen Bariton als Idealbesetzung für den Donner. Demgegenüber fiel der ziemlich dünn und ohne die erforderliche Körperstütze singende Froh Moritz Kallenberg s ab. Die tadellos intonierenden Rheintöchter von Tamara Banjesevic (Woglinde), Ida Ränzlöv und Aytaj Shikhalizade (Floßhilde) bildeten einen homogenen Gesamtklang. Erwähnenswert ist, dass Frau Banjesevic sich bei den Endproben ein Bein gebrochen hatte und deshalb auf einen Rollstuhl angewiesen war. Den hatte sie indes bestens im Griff und vermochte ihn trefflich in ihr Spiel einzubeziehen.
Im Graben ließ GMD Cornelius Meister das phantastisch disponierte Staatsorchester Stuttgart immer wieder in hohem Maße aufblühen und erzeugte fulminante Spannungsbögen. Die von ihm gewählten breiten Tempi leisteten einer hervorragenden Transparenz Vorschub. Praktisch nichts ging in dem eleganten, fein gesponnenen Klangteppich unter. Da wurden in der Tat viele Einzelheiten hörbar. Darüber hinaus wartete der Dirigent mit einer reichen Farbpalette sowie einer trefflichen Diktion der Orchesterstimmen auf.
Fazit: Ein gelungener Abend, der sich wieder mal voll gelohnt hat.
Ludwig Steinbach, 20.12.2021