Berlin: „Cassandra“, Bernard Foccroulle

Tragödie einer Klimaaktivistin

© Stephan Rabold

Doch nun Sandra, gibt es keinen Gott, der dir in den Mund spuckt, nein, niemand, niemals, wird dir deine Stimme nehmen“, verheißt die trojanische Prinzessin Cassandra der Klimaretterin Sandra, ihr im Namen gleichend und auch insoweit im Schicksal, als sie eine kommende Katastrophe voraussieht, ihr aber nicht geglaubt, ihr Geliebter getötet wird. So geschah es auch der trojanischen Prinzessin Kassandra, die von Apollo die Gabe bekam, die Zukunft vorauszusehen, aber von dem auch sonst einiges Unheil unter Menschenmädchen Verbreitenden mit dem Fluch beladen wurde, dass man ihr nicht glaubte, nachdem sie sich dem Gott verweigert hatte und er ihr, da er das Geschenk nicht rückgängig machen konnte, in den Mund gespuckt hatte. Kassandra sagt ungehört das Unheil voraus, das Paris mit dem Raub der Helena bringen wird, den Untergang Trojas, wenn man das von den Griechen zurückgelassene Pferd in die Stadt holt, so wie Sandra in ihrer Familie keinen Glauben findet, als sie vom Abschmelzen des Antarktispols berichtet, was eher noch als positiv, weil als kommende Einnahmequelle angesehen wird. Ihr Geliebter …kommt auf ungeklärte Weise ums Leben, die Vergewaltigung durch den Griechen Ajax, die Verschleppung durch Agamemnon und die Ermordung durch das edle Paar Klytämnestra und Ägisth bleibt ihr bis zum Ende der Oper Cassandra des belgischen Komponisten Bernard Foccroulle Oper erspart. Es bleibt offen, ob die Klimatologiedoktorandin, die als Komödiantin für ihre Ziele wirbt, am Ende Erfolg haben wird mit der Rettung der vom Librettisten Matthew Jocelyn mit Komponistennamen getauften Eisberge der Antarktis. Der Komponist betonte übrigens, dass sein Werk keine „aktivistische Oper“, sondern die „Tragödie einer jungen Aktivistin“ sei. Es bleibt erst einmal beim Klageruf „Ototoi popoi da“, ein Happy end für die Erde ist möglich, aber nicht sicher.

© Stephan Rabold

Viele Schriftsteller und Komponisten hat das Schicksal der trojanischen Königstochter bewegt, von ersteren sei nur an Homer, Aischylos, Seneca, Shakespeare und Schiller erinnert. Christa Wolf inspirierte sie zu einem umstrittenen Buch, in dem viele Kritiker eine Aufforderung zum Verbleiben in der DDR sahen. 2023 wurde in Brüssel die Oper des vormaligen Intendanten Bernard Foccroulle, der später in Aix en Provence wirkte, uraufgeführt und nun von der Staatsoper mit (fast) identischer Sängerbesetzung, Regie und Ausstattung übernommen. Wenn auf der Website der Staatsoper also von „Rollendebüts“ geschrieben wird, stimmt das nicht ganz.

Verheißt der Titel Cassandra nichts Gutes, so bleibt der Zuschauer doch nicht in dumpfer Verzweiflung zurück, sondern darf den aufmunternden Worten der Trojanerprinzessin Glauben schenken und findet das Zusammentreffen der beiden durch Jahrtausende voneinander getrennten Figuren am Schluss auch gar nicht mehr seltsam, sondern geradezu nachvollziehbar, ja schlüssig.

Die Szene wechselt zwischen einer in sich zusammenstürzenden Mauer, dem Esszimmer der Familie Sandras zu vielen anderen angedeuteten Schauplätzen sowie dem mehrmaligen Blick auf Bienenstöcke (Bühne Fabian Teigné ). Neben der Bühne sind Videoprojektionen (diese und Regie Marie-Eve Signeyrole) Schauplatz des Geschehens. Seitenbalkone werden in die Handlung mit einbezogen, indem von hier aus die Gegner Sandras wüten. Die Personenführung von Signeyrole ist eine behut- und einfühlsame, der Wechsel vom Realen ins Surreale ist gut nachvollziehbar, dank der „filmischen Inszenierung“, als die die Regisseurin ihr Werk bezeichnet. Die dezent charakterisierenden Kostüme stammen von Yashi.

© Stephan Rabold

Der Komposition von Foccroulle merkt man dessen Beschäftigung mit alter Musik an, taucht doch ein Choral von Bach auf („Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“), klingt mancher Orchesterpart (Bläser) wie Monteverdi, das Schlagzeug bekommt seine Aufgaben bei der Zerstörung Trojas, und es spricht nicht gegen die Musik Foccroulles, dass die wenigen Takte Bach die berührendsten des Abends sind. Auch der Belgier hat den beiden Cassandren für ihre Klagen einfühlsame Musik geschrieben, und nicht nur weil das Orchester tief versenkt ist, gibt es nie einen Kampf um die akustische Deutungshoheit zwischen Graben und Bühne. Zwischen antikem und jetztzeitlichem Personal allerdings liegen Welten, was man besonders gut an den Paaren Priam/Alexander, der Vater Sandras, und Hecuba/Victoria feststellen kann, von denen das antike Personal doch noch einiges an Würde aufbringen kann, was ganz und gar nicht auf den Gott Apollo zutrifft, der nicht zufällig auch das Angry Audience Member mit wüstem Geschrei ist, als Gott allerdings mit der markig-markanten Stimme von Joshua Hopkins aufwarten kann. Ob die zu früh einsetzende Geburt bei der Schwester Sandras, Naomi, schon eine Folge des Klimawandels ist, kann nicht ergründet werden, wäre aber sonst eine überflüssige Abschweifung vom Thema, und mit einer kleidsamen Perücke für den Blake, Geliebten Sandras, hätte man das Schmunzeln im Publikum bei der Äußerung von dessen Besorgnis vermieden, seine Kinder könnten über einen kahlköpfigen und zahnlosen Vater entsetzt sein, wenn das Paar noch lange das Kinderkriegen aufschiebe. So kam bei Valdemar Villadsen zu einer recht kläglich klingenden Tenorstimme auch noch ein unpassendes Äußeres. Feine, glasklare Töne fand Sarah Defrise für das Wiegenlied der schwangeren Naomi. Eine warme dunkle Stimme hatte Susan Bickley für die antike wie die moderne Mutter, die beiden Väter trafen mit Gidon Saks auf eine angemessene Optik und fein charakterisierende vokale Leistung. Einen hochpräsenten, auch im Dienste ihres Anliegens seltene Schrillheit nicht vermeidenden hellen Sopran setzte Jessica Niles für die gegenwärtige Sandra ein, hingebungsvoll im Spiel und vokal hochpräsent mit oft leuchtenden Tönen. Wie von einem Geheimnis umweht wirkte die Cassandra von Katarina Bradiċ, deren dunkler, ausdrucksstarker Mezzosopran geheimnisvoll schimmern konnte. Anders als in Brüssel war auch der Orchestergraben weiblich besetzt mit der Dirigentin Anja Bihlmaier, die für eine Ausgewogenheit zwischen Bühne und Graben sorgte, eine aufmerksame Begleiterin für die Sänger war und die vielfältigen Hinweise auf die musikalische Vergangenheit schön herausarbeitete. Dani Juris hatte die Einstudierung des Chors übernommen.

© Stephan Rabold

Leider war das Haus nicht restlos ausverkauft, vielleicht weil man sich entweder vor dem hundertsten Rückgriff auf die Antike oder aber vor einem aufdringlichen Agitprop-Stück fürchtete. Cassandra ist weder das eine noch das andere, sondern eine sehr geschickte, nie aufdringliche Verknüpfung beider Themen, verbunden mit interessanter, angenehmer, sangbarer Musik und in einer vorbildlichen Umsetzung.

Ingrid Wanja, 19. Juni 2025


Cassandra
Bernard Foccroulle

Staatsoper Berlin

Deutsche Erstaufführung am 19. Juni 2025

Inszenierung: Marie-Eve Signeyrole
Musikalische Leitung: Anja Bihlmaier
Orchester der Staatsoper Berlin