Berlin: „Simon Boccanegra“, Giuseppe Verdi

Verzwickte Geschichte

„Please, tell me the story of the Trovatore“, bittet höhnisch angeblich der Engländer, wenn ihm eine Geschichte allzu unwahrscheinlich und unverständlich zu sein scheint, dabei wird doch von Ferrando und Azucena alles ganz genau erzählt, und nur Luna bleibt bis zuletzt der Dumme, und ihm muss zum Schlussakkord die Wahrheit „ È tuo fratello!“ in die Ohren geschrien werden. Viel mehr als der Trovatore hat sich der Simon Boccanegra das Prädikat der Unverständlichkeit verdient, denn man weiß nicht einmal, wie man den Sopran eigentlich anreden darf, mit Amelia Grimaldi (?), den Namen hat sie nur durch Adoption erlangt; als Maria Boccanegra (?), ist sie nicht, denn ihre Eltern waren nicht verheiratet, also Maria Fiesco? Davon ist im Libretto nicht die Rede, und das beansprucht nicht einmal ihr Großvater Fiesco.

© Jenny Bose

Liegt es an manch Schwerverständlichem in Verdis Schmerzenskind, das er gründlich umarbeitete, nachdem die erste Fassung von 1857 nicht den gewünschten Erfolg hatte? Die Deutsche Oper Berlin jedenfalls hat sich mit drei aufeinander folgenden Produktionen viel Mühe damit gegeben, hatte zunächst eine sehr statische, feierliche von Gian-Carlo Del Monaco auf dem Spielplan, versuchte es dann mit einer, die im Prolog die Stazione Centrale von Mailand im Programm hatte mit vielen Urlaubern im Aufbruch und einer Braut, die auf der Dampflokomotive vergewaltigt wurde, und auch danach zeigte sich die Regie eisenbahnverrückt mit einem zugigen Vorortbahnhof statt des Meeresufers und einem Luxusinterieur, das des Orientexpresses würdig sein könnte, für die Ansprache des Dogen. Aber das gefiel nicht auf Dauer, so dass im Moment mit einer dritten Produktion ein von der Tochter ganz und gar ungeliebter Simone und recht kleine Verhältnisse dominieren.

© Jenny Bose

Die Staatsoper brachte in der gleichen Zeit nur einen einzigen Simon Boccanegra zustande, und den hat sie vielleicht auch nur Placido Domingo zu verdanken, der gerade sein Repertoire von Tenor- auf Baritonpartien umstellte und sicherlich bei seinem Freund Daniel Barenboim ein offenes Ohr für das Ansetzen einer Produktion hatte, die auf Regiemätzchen verzichtete. Bei einem weiteren Auftritt als Bariton beschränkte sich die regieliche Rücksichtnahme auf den Bariton und nur Domingos Luna durfte unbeirrt und unangefochten durch den lustigen Irrwitz schreiten.

Zwar betrifft diese Bescheidenheit nicht nur abstruse Regieideen, sondern auch generell die optische Seite der Produktion, die von Maurizio Balò durch monumentale Aufbauten wenig Spielraum für die Chormassen (Dani Juris) bot. Die hatte Regisseur Federico Tiezzi mehrfach zu Meereswogen nachahmenden Bewegungen animiert, wohl sich der Tatsache bewusst werdend, dass das vielzitierte Mare abgesehen von auf geheimnisvolle Weise ab und zu verschwindenden und wieder auftauchenden Masten auch in dieser Produktion außen vor blieb, dafür aber der Himmel allen meteorologischen Gesetzen trotzend die abenteuerlichsten Farben in schnellstem Wechsel annahm. Von La Superba jedenfalls keine Spur. Umso mehr schimmerte es flirrend aus dem Orchestergraben beim Vorspiel zum ersten Akt, und auch als einfühlsame Begleiterin der Sänger konnte sich Eun Sun Kim profilieren.

© Jenny Bose

La regia funziona war zu Verdis Zeiten und noch lange danach ein ausreichendes Prädikat für eine Inszenierung, kann aber heutige Sänger nicht zufriedenstellen. Domingo und Harteros in der Premiere und auch in der ersten Wiederaufnahme wussten trotzdem, was sie zu tun hatten, die neue Besetzung versuchte sich mit sinnlosen Gängen über die Bühne oder mit Rampensingen zu behelfen, was der Aufführung streckenweise Oratoriencharakter verlieh. Manchmal hätte man dieser Gattung gern den Vorrang gewährt, da die Optik den Eindruck, den die Musik hätte machen könnten, eher abschwächte, als dass sie ihn verstärken konnte.

Die Sängerleistungen konnten für optische Unbill entschädigen. Fabio Sartoris Tenor verleiht dem Gabriele Adorno Glanz, der Sänger bemüht sich erfolgreich um Abstufungen, so im zweifachen Io piango“, ist auch sonst mehr als erinnerlich um Agogik bemüht, allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass er sich beim unbekümmerten Zuschaustellen seines prachtvollen Timbres mehr in seinem Element fühlt. Auf jedem Fall sind ihm die Jahrzehnte friedvollen Regierens, die der historische Adorno genoss, zu gönnen. Einen bärbeißigen und zugleich verschlagenen Touch verleiht Alfredo Daza seinem sonst sanfter klingenden Bariton für den Paolo. George Petean ersetzte in der Titelpartie den krankheitsbedingt ausgefallenen Ludovic Tézier. Zwar hat man in der Vergangenheit schon berührendere „Figlia“s gehört, aber spätestens im Duett mit dem Bass im letzten Akt müsste er die Herzen der Zuschauer berührt haben, was natürlich auch ein Verdienst des Fiesco von Marco Mimica, einst Ensemblemitglied der Deutschen Oper, das inzwischen eine Weltkarriere gemacht hat, ist. Als eine wahre Lichtgestalt erwies sich die Amelia von Elena Stikhina, die in einer Opernwelt der austauschbaren Stimmen mit einem individuellen, unverwechselbaren Timbre erfreute, mit feinen Piani, einer Stimme, die in der Höhe nicht enger wurde, sondern aufblühen konnte, und wenn es ihrer bedurfte, hörte man sogar die so begehrte „Lacrima“ in der Stimme.

© Jenny Bose

Übrigens konnte man einer Kritik von Tosca an der Scala entnehmen, dass Sopran und Tenor zwischen den Boccanegras in der Berliner Staatsoper auch Tosca und Cavaradossi in Mailand waren, so dass es kein Wunder ist, dass die dortige Kritikerin bemerkte, wie wenig spezieller Puccinigesang zumindest vom Tenor zu vernehmen war. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Tenor sich mit den Worten „Meine Stimme ist kein Fahrstuhl“, weigerte, als er zu ähnlichem Tun verpflichtet werden sollte. Tempi passati, leider.

Der Staatsoper ist dafür zu danken, dass sie auch Produktionen im Repertoire behält, die dem Regisseurstheater verfallendem Zeitgeist widersprechen, Sängern die Konzentration auf ihre eigentlichen Aufgaben ermöglichen und dem Publikum die Gelegenheit geben, eine Oper wie vom Komponisten geplant zu erleben.

Ingrid Wanja, 30. März 2025


Simon Boccanegra
Giuseppe Verdi

19. Vorstellung am 30. März 2025
Premiere am 24. Oktober 2009

Inszenierung: Federico Tiezzi
Musikalische Leitung: Eun Sun Kim
Chor und Orchester der Staatsoper Unter den Linden