Würdige Geburtstagsfeier
Mit großem Respekt hat sich offensichtlich Alban Berg dem Fragment Woyzeck genähert, einem Werk des mit nur 23 Jahren an Typhus verstorbenen Georg Büchner, der bis zu seinem frühen Ableben bereits die Flugschrift Der Hessische Landbote, die Dramen Dantons Tod, Leonce und Lena und die Erzählung Lenz verfasst hatte. Eine Veränderung allerdings fällt auf: Bei Büchner gibt es eine Großmutter, die den Kindern das Märchen vom elternlosen Kind erzählt, das sich hilfesuchend an Sonne, Mond und Sterne wendet und doch nur Trugbilder antrifft. Die Großmutter endet mit: „…und da sitzt es noch und is ganz allein.“ Es beginnt wie das Märchen Die Sterntaler und endet im Nihilismus. Bei Berg beginnt Marie damit, ihrem Kind das Märchen zu erzählen, endet aber bereits nach wenigen Worten, um sich einem Bibeltext zuzuwenden. Wollte Berg das reichhaltige Personal des Woyzeck vermindern? Ist es nur ein Zufall, dem Lesefehler gleich, der aus Woyzeck einen Wozzeck und damit für (Über?)Interpreten eine Verschärfung im Munde von Hauptmann und Doktor werden ließ? Für Germanisten ist es jedenfalls als Abschied von einem transzendentalen Weltbild eine Schlüsselszene und Hebel für eine Interpretation des gesamten Fragments.

Das Textbuch von Berg besteht aus drei Akten und fünfzehn Szenen, musikalisch gliedert es sich in fünf Charakterstücke für den ersten, eine Sinfonie in fünf Sätzen für den zweiten und fünf „Inventionen“ für den dritten Akt und enthält, so Christian Thielemann, „dirigentische Nüsse“, die es zu knacken gilt, etwa unterschiedliche Taktangaben für die Orchestergruppen, bereit. Das hatte er vor 35 Jahren in Turin in jugendlicher Unbekümmertheit noch anders gesehen, erst jetzt das Visionäre, das dem Stück eigen ist, richtig zu schätzen gewusst. In einem Pressegespräch vor der ersten Aufführung an der Lindenoper hatte er erklärt: „Mit Belcanto hat das wenig zu tun, aber auf eine Art ist wieder Belcanto drin. Das ist eine ganz andere Art von schönem Ausdruck. Es wird zuerst ein großer Ausdruck verlangt.“
Das Stück, das an der Lindenoper seine Uraufführung am 14. Dezember 1925 unter Erich Kleiber erlebte und nun genau bis auf den Tag hundert Jahre später von Christian Thielemann hier gefeiert wurde, hat eine lange Aufführungsgeschichte, denn vor dem jetzigen Wozzeck in der Regie von Andrea Breth aus dem Jahre 2011 gab es bereits den von Patrice Chereau 1994, 1984 den von Ruth Berghaus, und die Premiere dirigierte jeweils Daniel Barenboim. Bei der letzten Premiere gab es nicht wenige Zuschauer, die, was die Optik betraf, der vorletzten nachtrauerten. Andrea Breth hat einen Hang dazu, bereits traurige Geschichten durch ihre Optik in noch weit traurigere zu verwandeln, so dass man etwa eine Lulu von Anfang bis Ende auf dem Schrottplatz durchstehen musste, es bei Katja Kabanova ähnlich war. Bei Wozzeck allerdings ist es schwierig, aber wie man erlebt, nicht unmöglich, das Elend zu steigern, und so erscheinen sowohl die klaustrophobisch anmutenden Szenen mit Doktor und Hauptmann wie die leere, grenzenlos erscheinende Bühne bei der Ermordung Maries als nachvollziehbar und mit dem Stück vereinbar (Bühne Martin Zehetgruber), machen es allerdings die durchweg in Grautönen gehaltenen Kostüme (Silke Willrett, Marc Weeger) schwer, die Personen auseinanderzuhalten.

Ein angemesseneres Ensemble, angefangen von der Titelpartie bis hin zu den Wurzen, die eigentlich keine sind, als das jetzt in der Staatsoper auftretende ist kaum vorstellbar. Simon Keenlyside ist die bis zuletzt, nachdem er Marie ermordet hat, sich in soldatischem Schritt und ebensolcher Haltung über die Bühne bewegende Kreatur, muss vokal trotz fortgeschrittenen Alters keine Abstriche machen und ist dazu vorbildlich textverständlich. Anja Kampe gibt eine hochdramatische Marie zwischen Verlangen und Reue, Täterin und Opfer zugleich. Wunderbar ausgewogen zwischen subjektiver Karikatur und der eines ganzen Standes, Militär und Wissenschaft verkörpernd, sind Stephen Milling ein unmenschlicher Menschenkundler mit angemessen dröhnendem Bass und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ein hysterischer Hauptmann mit ebenso rollenadäquatem schrillem Tenor. Bereits unter Barenboim hatte Florian Hoffmann den Andres gesungen und wiederholt ihn nun rollendeckend. Mit künstlicher Muskulatur bepackt, aber vokal keine Verstärkung benötigend, gibt Andreas Schager einen testosterongesteuerten Tambourmajor mit adäquater Tenorstimme. Immer ein besonderes Erlebnis ist Stephan Rügamer, hier als höchst berührender Narr, während ebenfalls als Luxusbesetzung Anna Kissjudit eine schillernde Margret verkörperte. Unbewegt zum Glück und deshalb wohl keinen seelischen Schaden erleidend, war Jacob Tougas Gigling aus dem Kinderchor das stoisch auf alle Geschehnisse reagierende Kind.

So rühmenswert das Geschehen auf der Bühne auch sein mag, das wahre Opernwunder spielte sich im Orchestergraben ab, wo Christian Thielemann Moderne und Spätromantik gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, die Zwischenspiele leuchten und flirren ließ, man nie zuvor in dieser Oper die Verbindung von Schönheit und Grausamkeit so bewegend wahrgenommen, die einzelnen Instrumentengruppen so solistisch hatte spielen hören. Dem Dirigenten galt denn auch der herzlichste, ja frenetische Applaus des Abends.
Die Kritiken waren nach der ersten Aufführung voll des Jubels über alle Mitwirkenden gewesen, und auch in der zweiten am 18. Dezember wiederholte sich das Opernwunder.
Es gibt noch eine Vorstellung am Sonntag!
Ingrid Wanja, 18. Dezember 2025
Wozzeck
Alban Berg
Staatsoper Berlin
15. Vorstellung am 18. Dezember 2025
nach der Premiere am 16. April 2011
Regie: Andrea Breth
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Orchester der Staatsoper Berlin