Bericht von der Aufführung am 21. Dezember 2017, (Premiere am 16. Dezember 2017)
Eine maßgeschneiderte Produktion
„Walküre in Detmold“ heißt ein Buchtitel, in dem bei aller Sympathie für das Engagement der deutschen Klein- und Kleinstbühnen auch die Hybris oder zumindest die Chuzpe mitschwingt, die damit verbunden ist, die Riesenwerke der Opernliteratur auch noch im allerkleinsten deutschen Stadttheater herausbringen zu wollen. Man landet so immerhin Achtungserfolge, bei denen der Zuhörer bereits eingepreist hat, daß er Abstriche machen muß – sei es, weil die Partitur wegen des begrenzten Platzes im Orchestergraben angepaßt werden mußte, sei es, weil sich im Ensemble nicht die Riesenstimmen für das schwere Repertoire finden und der Etat nicht den Einkauf teurer Gäste zuläßt.
Das Gegenteil davon ist nun am Stadttheater Gießen zu erleben. Hier hat das Stück zum Haus gefunden. Alles sitzt wie maßgeschneidert, ja man möchte ausrufen: Die „Ariadne“ gehört künftig bitte nur noch an kleinen Häusern gespielt! Alles paßt hier: Die Inszenierung nutzt die räumlichen Gegebenheiten und zeigt insbesondere im ersten Aufzug, wie sich der Witz und der Charme der Vorlage gerade in der Intimität eines kleinen Zuschauerraumes mit großer Nähe des Publikums zur Bühne unmittelbar entfalten können. In der für ein Kammerensemble von knapp 40 Musikern geschriebenen Partitur läuft das Gießener Hausorchester zur großen Form auf. Und die Sängerbesetzung kombiniert geschickt Ensemblemitglieder mit jungen Gastsängern, von denen man auch anderenorts noch hören wird.
Das Bühnenbild von Lukas Noll zeigt im ersten Aufzug genau das, was das Libretto vorgesehen hat: „Ein tiefer, kaum möblierter Raum im Hause eines großen Herrn. Links und rechts je zwei Türen. In der Mitte ein runder Tisch. Im Hintergrund sieht man Zurichtungen zu einem Haustheater. Tapezierer und Arbeiter haben einen Prospekt aufgerichtet, dessen Rückseite sichtbar ist.“ Der österreichische Regisseur Hans Hollmann präsentiert auf dieser Spielwiese eine Boulevardkomödie im ironisch-gehoben Stil. Die Pointen des Librettisten Hugo von Hofmannsthal zünden, was nicht zuletzt daran liegt, daß das spielfreudige Ensemble sich erfolgreich um große Textverständlichkeit bemüht. Ein besonderes Kabinettstück liefert Harald Pfeiffer in der Sprechrolle des Haushofmeisters ab. Der in Wien aufgewachsene Schauspieler versteht es, der blasierten Arroganz seiner Rolle durch Understatement große Wirkung zu verleihen und dabei seinen authentischen Wiener Akzent gerade so stark anzudeuten, daß er die Blasiertheit dezent unterstreicht. Kontrastiert wird diese raffinierte Dezenz durch die Aufwertung der Nebenfigur des Lakaien. Gunnar Frietsch darf ihn als übereifrigen Nachahmer des Haushofmeisters zeigen, mit übertriebener Imitation eines (falschen) Wiener Akzents und einer Devoterie, mit der er schließlich sogar in stummen Lippenbewegungen den Text des Haushofmeisters mitspricht. Ein hübsches Inszenierungsdetail, das gut demonstriert, wie genau die Regie hier gearbeitet hat.
Generalmusikdirektor Michael Hofstetter setzt mit seinem Orchester in den Konversationspassagen des ersten Teils stilsicher trocken-knackige Akzente und sorgt so für eine wunderbare Lockerheit im musikalischen Parlando. Zugleich läßt er immer wieder bereits ahnen, zu welch süffiger Klangfülle das Orchester im zweiten Teil finden wird. Dies gelingt besonders in der Begleitung der phänomenalen Annelie Sophie Müller, die sich in der Rolle des Komponisten schwärmerisch verströmt. Fast möchte man bedauern, daß Strauss für ihren satten Mezzosopran mit den glutvoll-leuchtenden Höhen im zweiten Teil keine Verwendung hatte.
Diesen zweiten Teil, die eigentliche „Oper“, läßt Bühnenbildner Lukas Noll in einem von wallenden Vorhängen gesäumten Raum spielen, in dessen Zentrum sich eine breite Liege befindet. Von oben kommen die drei Nymphen hereingeschwebt. Noll, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat sie in Anspielung auf ihre mythologische Herkunft eingekleidet, so daß die Wassernymphe Najade mit Fischschwanz und die Baumnymphe Dryade mit Wurzelwerk anstelle der Beine erscheinen.
Im Bühnenraum erinnern eine Statue und diverse Bilder an Theseus, von dem Ariadne verlassen wurde und dem sie nachtrauert. Mit Dorothea Maria Marx hat das Stadttheater Gießen auch für die Titelpartie eine rollendeckende Besetzung gefunden. Die junge Sängerin verfügt über die passenden leise-intensiven Töne der Trauer des Beginns ebenso wie über die Möglichkeit zur schwärmerischen Expansion im Finaljubel. Damit setzt sie den idealen Kontrast zur quirligen Diana Tomsche, die für die Zerbinetta ihre Soubrettenstimme wirkungsvoll keck zur Geltung bringt. In einem größeren Haus würde wohl ein Mangel an Durchschlagskraft auffallen. Die Koloraturachterbahn der Bravourarie „Großmächtige Prinzessin“ bewältigt sie geschickt, den gefürchteten Spitzenton am Ende jedoch tippt sie nur kurz an.
Die Herren der Gauklertruppe erscheinen in hellen Showanzügen und trällern ihre Lieder homogen in bester Comedian-Harmonists-Manier. Wie schon im ersten Teil weiß Regisseur Hollmann seine Figuren mit Präzision und Geschick zu führen. Blicke, Gesten, Interaktionen: Alles wirkt locker und in beiläufiger Selbstverständlichkeit stimmig – bis am Ende der Gott Bacchus auftritt und Ariadne aus der Isolation befreit. Dazu läßt der Regisseur die beiden fortwährend um das Bett in der Bühnenmitte kreisen, daß man schon befürchten muß, die Protagonisten könnten sich schwindlig drehen. Das ist dann doch ein bißchen zu wenig. Zu diesem Zeitpunkt hat aber bereits Michael Hofstetter im Orchestergraben die Führung übernommen, so daß die Bühnenaktion zur Nebensache wird. Der Gießener Generalmusikdirektor erzeugt mit seinen Musikern einen farbig schillernden, üppigen Klangrausch, bei dem man kaum glauben möchte, daß es sich bloß um ein Kammerorchester handelt. Und weil neben der stimmlich souveränen Dorothea Marx auch Michael Siemon als Bacchus die komponierten Zumutungen mit gut geführtem, lyrisch grundiertem, aber kernigem Tenor tadellos bewältigt, findet ein bemerkenswerter Abend einen musikalisch glänzenden Abschluß.
„Ariadne in Gießen“: Eine szenisch runde, musikalisch beglückende Produktion, für die sich auch eine längere Anreise lohnt.
Weitere Vorstellungen am 14. Januar, 2. Februar, 29. März, 29. April und 26. Mai.
Michael Demel, 12. Januar 2018
© Bilder: Rolf K. Wegst