NI am 30. Oktober 2021
Eine ungewöhnliche, aber nachvollziehbare Interpretation
Die Staatsoper Hannover wartete schon unter der Direktion Michael Klügl bis 2019 mit so eigenwilligen, ja abwegigen Produktionen auf, dass sich in der Stadt sogar eine recht emsige Bürgerinitiative dagegen bildete. Nahezu leere Ränge waren oft die Folge. Dieser Stil hat mit der US-amerikanischen Intendantin Laura Berman weitgehend eine Fortsetzung erfahren. Insbesondere, wenn ich an die „Carmen“ in der Regie von Barbora Horáková, die neben einem aufwendigen, völlig überzogenen und damit auch zu teuren Bühnenbild, aber zudem noch mit einem offenen und mehr als gewöhnungsdürftigen, eigentlich aber fragwürdigen Eingriff in die Partitur völlig aus dem Ruder lief, denke – aber auch an den Corona-bedingt etwa auf zwei Drittel gekürzten „Tristan“ von Richard Wagner. Nun fehlt am Haus offenbar das Geld, um wunschgemäß weiterzumachen. Eine Protestaktion auf der Bühne wurde nach der „Otello“-Aufführung groß angekündigt, ein Spruchband von allen Akteuren hochgehalten und Protestkarten an das Publikum zur Sendung an die relevante staatliche Subventions-Stelle verteilt…
Dabei ging es auch bei dieser Neuinszenierung von Verdis Meisterwerk „Otello“ wieder recht unkonventionell zu. Aber die Interpretation macht trotz aller Ungewöhnlichkeit, auch der Unklarheit einiger Bilder von Etienne Plus, den Videos von Philipp Contag-Lada und dem Licht von Susanne Reinhardt doch interpretatorischen und dramaturgischen Sinn. Man ist zunächst überrascht, wenn man den – natürlich weißen – Otello zu Beginn in einer heruntergekommenen Küche mit einem Baseball-Schläger wie wild in die Luft schlagen, dann verzweifelt auf eine Matratze sinken und sich wieder imaginärer Angriffe aus dem Nichts erwehren sieht. Das „Esultate“ geht unter in einem optisch beklemmend dargestellten Kriegstaumel, mit ratternden Maschinengewehrsalven, schemenhaften Soldaten mit Gewehr im Anschlag, Fallenden und einem ungeheuren Lärm. Hier geschieht staatlich beauftragter Massenmord, dessen Erfolg auch noch bejubelt werden soll! Es wird sogleich klar: Hier ist ein Otello, der von seinen Kriegserlebnissen stark traumatisiert ist und nicht zur Ruhe finden kann. Das wird auch deutlich, wenn Desdemona mit einem spärlichen Einkauf wie in einem studentischen Wohnmilieu hereinkommt, in dem auch die Bierdosen von Unrast zeugen, und es weder einen Kuss noch eine Umarmung gibt. So wird auch das romantische Duett der beiden zum Finale des 1. Akts eher zu einer Farce als Beweis gegenseitiger Wertschätzung und Liebe.
Regisseur Immo Karaman und seine im Programmheft äußerst präsente Dramaturgin Regine Palmai sehen Otello in einem „Kampftrauma“, einem Zustand an Überforderung, der nicht mehr zu verkraften ist. Die Kriegsveteranen, die aus dem 2. Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrten, und natürlich nicht nur diese, haben gezeigt, dass der Krieg, auch wenn er schon zu Ende ist, dauerhaft im Zivilleben nachwirkt, auch im politischen Diskurs und in der Geschichtsschreibung. So sehen Karaman und Palmai einerseits den von Verdi musikalisch komponierten militärischen Triumph, der aber, de facto, in der „schlimmstmöglichen Katastrophe des Siegers im Privatleben“ endet. Und das ist in der Tat gegenwartsrelevant, leider immer wieder und kontinuierlich in unserer Zeit. Und hier sehen sie die ‚alte‘ Geschichte des „Otello“ uns die Möglichkeit geben, „mit Mitteln der Kunst über die Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken – und wie wir mit ihnen umgehen.“
Das scheint mir ein sehr plausibler Deutungsansatz für Verdis „Otello“ zu sein, obwohl er in Hannover impliziert, dass man sich von allen mit der Aufführungstradition des Werkes verbundenen Erfahrungen radikal verabschieden muss. Denn was wir hier erleben, ist natürlich knallhartes Regietheater, wo es auf eine auch nur in Ansätzen erbauende Optik oder gar Harmonie, und sei es auch nur in wenigen Momenten, überhaupt nicht mehr ankommt. Das Regieteam zeigt uns ein unter die Haut gehendes psychisches Drama, in dem Otello langsam, aber sicher, der völligen Selbstzerstörung entgegen geht. Gegen Ende muss er sogar von zwei Polizisten in Gewahrsam genommen werden, weil er auf seine Frau losgehen wollte. Diese hält das alles geduldig aus. Sie scheint als einzige die Einsicht in die Tragik ihres Mannes zu haben, sein Trauma und dessen Konsequenzen für ihre Beziehung zu verstehen. Es „herrschen Einsamkeit und Sprachlosigkeit.“ Und hier wird ein ganz interessanter Vergleich zur derzeitigen Lockdown-Problematik gezogen. „Plötzlich fangen wir an zu grübeln, ob wir noch so sind wie vorher. Und wer isoliert und auf sich allein gestellt ist, beginnt unter Umständen, an sich zu zweifeln“ – eine interessante Facette dieser Interpretation. Emotionale Kälte und mangelndes Vertrauen in die Umgebung können sich einstellen.
Der Einheits-Bühnenraum soll durch eine Vervielfachung bis zu einem vierten, fünften Mal Otellos psychisches Gefängnis darstellen, einen „wahnhaften Zustand der Zersplitterung und Verunsicherung“. Das Publikum soll nach und nach entdecken, dass es sich hier um Parallelwelten und Parallelzustände handelt, eine „Multiplikation von Realitätswahrnehmung und Verrätselung.“ Hier gehen der Regie die interpretatorischen Pferde etwas durch, denn das gelingt mit diesem Bühnenbild nur begrenzt. Die Auffächerung des immer gleichen Raumes, in dem eigentlich nur ein alter Kühlschrank und ein Tisch mit zwei Stühlen steht, wirkt nicht wirklich überzeugend, da sich die Figuren, insbesondere Jago, der natürlich als einziger Wissender unter den Männern die Strippen zieht, immer wieder zwischen den verschiedenen Räumen hin und her bewegen. Da hilft auch ein mir bisher unbekannter Movement Director nicht, den hier Fabian Posca gibt. So wirkt dieses Konzept optisch diffus. Ein negativer Höhepunkt ist zudem der offenbar bewusst kitschig aufgezogene Chor der Mädchen zu „T’offriamo il giglio soave stel“, die bei entsprechender Verkleidung (Kostüme: Gesine Völlm) karnevalsartig Luftschlangen werfen und Knallkörper hochgehen lassen, absolut entbehrlich! Völlig unverständlich ist die Hinzufügung zweier kleiner Kinder in Desdemonas Schlafzimmer, die von der eigentlichen Tragik des Geschehens nur ablenken und zuvor in ein Nebenzimmer abgeschoben werden müssen. Die Tatsache, dass Otellos Selbstmord misslingt, weil keine Kugel im Magazin ist und Desdemona dann wieder mit dem Einkauf hereinkommt, stoisch wie zuvor, sollte wohl heißen: Alles beginnt von Neuem, was allerdings leider wahr ist…
Natürlich kommen im Programmheft naheliegender Weise auch ein Vietnam-Veteran sowie eine Angehörige zu Wort. Dazu gibt es interessante und ebenso gut lesbare Aufsätze von Jonathan Shay „Vor mir selbst kann ich nicht fliehen“ und „Demoralisierung“, von Jan Philipp Reemtsma „Werkzeuge der Gewalt“, von Marita Scholz „Dämonen in seinem Kopf“ und von Günter Anders „Das Nichts“, die zudem alle treffend – schon durch die Titel – die Relevanz des hier gewählten Regiekonzepts belegen. Obwohl inhaltlich also viel Sinn machend und auch völlig nachvollziehbar in der Argumentation in Bezug auf Otello und seine Umgebung nach dessen Rückkehr nach Zypern, was hier natürlich kein Zypern ist, sondern alles und irgendwo, sind die Aufsätze der Dramaturgin Regine Palmai allerdings alles andere als leicht lesbar. Hier wird stramm „durchgegendert“. Da stolpert man dann relativ schnell hintereinander auf vom Rat für deutsche Rechtschreibung noch im März diesen Jahres offiziell als nicht-normgerechte Formulierungen eingestufte Wortkreationen wie „Kamerad:innen“ oder „Zivilist:innen“ gleich in einem Satz; „Vietnam-Heimkehrer:innen“ und „Vietnam-Veteran:innen“; nicht ohne kurz darauf auch von den gewohnten Vietnam-Veteranen zu sprechen; sowie „Außenseiter:innen“, Heimkehrer:innen und „Protagonist:innen“. Eine bemüht aktualisiert wirkende Wortschöpfung fällt auf, wenn Palmai im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg zum „Kampftrauma“ schreibt, dass Krieg dauerhaft „… in den Familien der Soldat:innen beider Seiten“ nachwirkt. Selten wurde mir klarer, wie sehr die Verwendung nicht-normgerechter Formulierungen das gute Deutsch mit der alles umfassenden, fälscherweise als maskulin bezeichneten generischen Form verunstalten und einem das Lesen vergraulen kann. Nicht zuletzt deshalb hat die deutsche Literatur davon noch nichts angenommen.
Kommen wir aber zu Positiverem, und hier ist ganz eindeutig der musikalische Teil zu würdigen. Martin Mühle als Otello und Barno Ismatullaewa als Desdemona boten mit ihren jeweiligen Rollendebuts ganz außerordentliche Leistungen. Insbesondere bei Mühle kam noch eine fast über menschliche Grenzen hinausgehende extreme Darstellung der Titelrolle, die er blendend und unglaublich authentisch meisterte. Sein kraftvoller Tenor mit dramatischem Aplomb (der Siegmund ist klar zu vernehmen!) passt ebenfalls bestens dazu, und er sang auch die Höhen mit großer Kraft und Intensität. Ein sehr guter Otello! Barno Ismatullaewa ist in Hannover und nicht nur dort für ihren wundervollen, geschmeidigen, leicht dunkel schattierten und damit umso charaktervoller klingenden Sopran bekannt. Sie gab eine Desdemona der Extraklasse und sollte nicht nur mit dieser Rolle bald auch international zur Wirkung kommen. Hinzu ist ihr emotional einnehmendes Spiel zu würdigen. Ismatullaewa verfügt, nicht zuletzt durch eine stets situationsgerechte Mimik, über eine hohe Bühnenpräsenz.
Pavel Yankovsky war den beiden ein Jago auf Augenhöhe, ebenfalls mit kraftvoller Stimme und boshafter Tongebung seines facettenreichen Baritons. Dazu konnte er in der Tat den verschlagenen Bösewicht nachhaltig über die Rampe bringen. Marco Lee sang den Cassio mit guten tenoralen Farben und intensiver Darstellung. Ruzana Grigorian war eine klangvolle und rollengerecht zurückhaltend agierende Emilia. In weiteren kleinen Rollen waren Peter O’Reilly als Rodrigo, Markus Suihkonen als Lodovico, Yannick Spanier als Montano und Gagik Vardanyan als Herold gut besetzt.
Der Hannoveraner GMD Stephan Zilias bewies am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover seine guten Kenntnisse der Musik Verdis im allgemeinen und des „Otello“ im Besonderen. Er legte mit dem Orchester den Grundstein für die Entfaltung der guten Stimmen der Protagonisten und konnte einige Entbehrlichkeiten auf der Bühne gut überspielen. Der von Lorenzo Da Rio einstudierte Chor der Staatsoper Hannover sang kraftvoll, mit guter Transparenz und hoher Wortdeutlichkeit. Insgesamt ein denkwürdiger Abend an der Staatsoper Hannover!
Bilder: Sandra Then
Klaus Billand, 03.12.21