Gefangen in der Seele
Normalerweise zählt Jules Massenets "Werther" , trotz des bekannten Goethe-Titels und der mitreißenden Musik, zu den "Kassengiften" der Opernhäuser, nicht so an der Staatsoper Hannover. Hier findet sich ein zahlreiches , mit vielen jugendlichen Zuschauern durchsetztes Publikum ein, auf Anfrage nicht nur in der besuchten Aufführung. Und wirklich vergeht die Zeit im Fluge, denn Bernd Mottl, der sonst eher für Musicals und Operette engagiert wird, hat mit Bühnenbildner Friedrich Eggert eine kurzweilige Inszenierung erarbeitet. Die Oper heißt zwar "Werther", doch könnte sie in dieser Version auch "Die Leiden der jungen C." genannt werden, denn die eigentliche Hauptfigur ist Charlotte, die auch von der Dramaturgie eher eine Entwicklung durchmacht, als der titelgebende, larmoyante Liebende. Gefangen ist die junge Frau zwischen Pflichterfüllung und eigenem Liebesbedürfnis. Solange sie sich nicht entscheidet, flieht sie dabei von einem Raum in den nächsten; wie in einem Comicstrip fährt die Bühne immer in das gleiche Zimmer: links und rechts die Türen, in der Mitte ein von einer Jalousie verschlossenes Fenster und ein Elektroadapter, nur die Möblierung wechselt. Bis beim entscheidenden Weihnachtsfest immer der gleiche Raum auftaucht und irgendwann die entscheidende Fluchttür fehlt, ein schlichtes, wie logisches Bild. Der letzte Akt, in dem Werther endlos sterbend mit Charlotte zu Tode leidet, setzt der Gefangenheit ein Ende, ein wundersamer, irrealer Raum mit einem zerborstenen Auto bildet das traumhafte Finale. So können die Sänger ganz auf den gesanglichen Ausdruck zentriert faszinieren, ohne einen sonst peinlich bemühten Pseudorealismus abliefern zu müssen, der manchmal etwas dröge wirkende Schlussakt gewinnt so an Stringenz und Glaubhaftigkeit. Alfred Mayerhofer hat dazu schöne, irgendwo im 20. Jahrhundert angesiedelte Kostüme entworfen.
Musikalisch geht es für Puristen der französischen Oper vielleicht nicht ganz so feinnervig zu, denn Anja Bihlmaier am Pult des Niedersächsischen Staatsorchester entscheidet sich für einen robusten, dramatischen Zugriff auf Massenets Melos, literarisch verglichen weniger Marcel Proust, denn Eugene Sue, doch das funktioniert gut und geht durchaus Hand in Hand mit der Szene. Die Staatsoper Hannover hat jedoch auch große Stimmen aufzubieten: Philipp Heo, optisch als schwarz gekleideter Künstlertyp barfuß mit Zopf, wirkt vielleicht als Person Werther etwas blass, vokal greift er mit üppigem Tenor in die Vollen, da entwickelt sich wohl aus einem lyrischen ein Spinto-Tenor. So saftig ausgesungen hört man das selten. Monika Walerowicz als attraktive Charlotte kann da absolut mithalten, manchmal wäre etwas weniger Lautstärke (Briefszene) von Vorteil, ihre Darstellung ist jedoch extrem packend. Christopher Tonkin setzt als Albert mit markantem Bariton den machistischen Hausvater dagegen, wie Ania Vegry als Sophie eine durchaus intrigante Konkurrentin um die Männergunst spielt, mit perfekt schwebendem Sopran. Michael Dries als Amtmann, Latchezar Pravtchev und Daniel Eggert als Schmidt und Johann bieten kleine , feine Personenstudien. Charlottes Schwestern sind gesanglich sehr erfreulich und von szenisch hoher Präsenz mit jungen Frauen aus dem Studium oder Jugendchor trefflich besetzt
So hat Hannover einen attraktiven und erfolgreichen "Werther" herausgebracht, wie bereits angedeutet, nicht ganz so feinsinnig und "französisch" wie man das Werk auch machen könnte, doch wer "große, leidenschaftliche Oper" erleben will, wird vol auf seine Kosten kommen. Mir hat es gefallen.
Martin Freitag 27.8.15
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