Premiere: 15.6. 2019
Kann so ein Abend mit Choreographien von Montero-Tänzern beginnen? Wie eine Erinnerung und eine Hommage an Ballette der 50er und 60er Jahre?
Schon dreimal haben einzelne Tänzer aus der Compagnie des Nürnberger Tanztheaterdirektors Goyo Montero Abende inszeniert, in denen sie zeigen konnten, dass sie nicht allein gut tanzen können, sondern auch zu choreographieren verstehen – aber noch niemals haben sich für ein solches Nürnberger Programm 14 Tänzer zusammengetan, um dem Publikum nicht weniger als 12 Arbeiten vorzustellen. Was eint sie? Ein Zitat des surrealistischen Wunderdenkers André Breton, der einmal vom mehrfach gefalteten Blatt Papier sprach: „so, dass jeder die Zeichnung seines Vorgängers fortsetzt, ohne diese jedoch zu kennen. Wenn das ganze Blatt so bearbeitet ist, wird es entfaltet und das so entstandene Kunstwerk bestaunt.“
Fabula noctis: Natsu Sasaki und Nura Fau
Noch einmal: Kann so ein Abend mit Choreographien von Montero-Tänzern beginnen? Natürlich – denn wenn man Daniel Roces‘ Mozart-Micky-Mousing genauer betrachtet, wird man in der erstaunlich musiknahen Vertanzung des Schluss-Satzes aus Mozarts d-Moll-Klavierkonzert eine Art Basis erblicken: Klassischer Tanz, gekoppelt mit gemäßigt modernen Elementen eines Nachkriegs-Neubeginns, dessen Spuren noch in den neuesten Arbeiten heute arbeitender Choreographen zu beobachten sind. Als harmlose Eröffnung eines komplexen Abends, als unkomplizierte Einschwingung in die Suite moderner Choreografien machte Roces‘ „Mantodea“ („inspiriert von den Insekten der Spezies Gottesanbeterin“) schon einen guten Sinn: auch als Erinnerung an die Vorgeschichte dessen, was in Nürnberg seit 20 Jahren besichtigt werden kann. Denn was folgte, war so kontrastiv wie nur möglich.
Beat the meat
Die unwillkürliche Frage aber lautet natürlich, auch wenn laut Robert Musil, womit er natürlich Recht hatte, nichts „natürlich“ ist, die Frage also lautet: Wie hältst du’s mit Montero? Wie viel Montero also ist in Deiner Arbeit? Viele choreographierende Tänzer wurden, es war vermutlich kaum vermeidbar, vom Meister inspiriert. Pardoxerweise aber ist man ihm dort, wo man sich tanzsprachlich von Monteros Handschrift am weitesten entfernt, am nächsten: in der Freiheit, den Tanz für sich neu zu erfinden. In diesem, und nur in diesem Sinne, waren Nobel Lakaevs und Joel Distefanos „Beat the meat“ (eine relativ lange, absurde wie beklemmende, lustige wie gruselige Revue mit „Memen“, die auch mal einen sich enthemmenden Sirtaki und Disco tanzen, und die neben einem weiteren, ins Komische aufgelösten Filmzitat aus „Full Metal Jacket“ an Woody Allens Spermien aus „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ und zugleich ein wenig an die Höllenbilder aus Boschs Gemälden erinnerten) und Isidora Markovic‘ „Milk Teeth“ (die latent aggressive Begegnung von fünf jungen Leuten: auf dem Schulhof? Auf der Straße?) fast näher an Montero dran als Stephanie Pechtl mit ihrer „Fabula noctis“: Vier Frauen, zusammen und gegeneinander, einsam und im Corps. Was immer wieder, in fast allen Arbeiten, durchschimmert, ist das Thema, das vielleicht Monteros Kernmotiv ist: das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das immer wieder neu definiert werden muss, selbst in den Arbeiten, in denen „nur“ ein einzelner Mensch wie Andy Fernández (in seiner hochvirtuosen „Recreación fisica“) auf der Bühne steht. Der Schluss, Nuria Faus und Esther Pérez‘ „Free Willy – Hetwich“ macht es unerbittlich klar: wie ein Mann namens „Free Willy“ in der Stadt der Äußerlichkeiten vergessen wurde, um auf ein Wesen namens Hetwich, einem guruhaften Ego, zu treffen, das schließlich die gesamte Compagnie in einem Gruppenbild eines fröhlichen Gänsemarschs vereint.
Inferno
Der Rest war ein wenig krude (die langen geschüttelten Wuschelblondhaare in Alexsandro Akapohis „Inferno“, „ein Ort in unseren Köpfen…“), war auch die erst sehr lustige, sehr schnelle, dann tief berührende, schwierige Begegnung eines Paares („Bonita casulidad“ von Laura Armendariz). Auch in Tal Eitans „Sheket“, übrigens begleitet von einem der schönsten Sätze von Peter Handke („Als das Kind Kind war“, man kennt es aus dem „Himmel über Berlin“), wurde im betörend vernebelten Leer- und Lichtraum ein Pas de deux aus Nähe und Abstoßung (und auch das ist ein Montero-Motiv) inszeniert, bevor – eine offensichtliche Fortsetzung der vorangetanzten Choreographie – der Broken Dance des Andy Fernández den mit dem Publikum kommunizierenden Tänzer in der selben Ecke auftreten ließ, an der das Paar verrschwand. Traurigkeit und Humor – auch so könnte man die Arbeiten überschreiben, die niemals, selbst nicht in der seltsam atavistischen Höllenparodie Alexsandro Akapohis, das Niveau unterschreitten, an das sich das Nürnberger Publikum gewöhnt hat. Hier die Komik (Sofie Verwaeckes energetische wie witzige Szenenfolge „At this point“), dort die ernste Auseinandersetzung mit den Themen Frau und Gesellschaft (Luis Tenas „N.O.S.T.“), die einen zuletzt davon überzeugt, dass Tanz nicht nur ein bezaubernder Pas de deux, sondern auch auf subtile Weise politisch sein kann: so wie in Rachelle Scotts „Without us“ der Terror und die Gefangenschaft – und wieder im Widerspiel von Individuum und Masse – in Tanzbilder gebracht werden können, die zwischen den Körperschwingungen der Moderne und dem gestischen Theater vermitteln.
Bonita casulidad: Esther Pérez und Lorenzo Terzo
Also: Aleksandro Akapohi, Laura Armendariz, Iván Delgado, Joel Distefano, Tal Eitan, Nuria Fau, Andy Fernández, Dayne Florence, Olga Garcia, Nobel Lakaev, Isidora Markovic, Stefanie Pechtl, Esther Pérez, Daniel Roces, Natsu Sasaki, Rachelle Scott, Luis Tena, Lorenzo Terzo und Sofie Vervaecke haben zusammen, als Choreografen und als Tänzer, die in eigenen Choreographien und den Arbeiten ihrer Kolleginnen und Kollegen auftreten, einen insgesamt erstaunlichen, kurzweiligen und denkbar vielfältigen Gruppenabend mit je individuellen Akzenten kreiert: mit Musik von Mozart, Händel (sein „Ombra mai fu“ erklang in der Musikcollage zum grotesken wie nachenkenswerten „Beat the meat“) und Satie, auch von Max Steiner (wunderbar sein Thema aus der Filmmusik zu „A summer place“ in Sofie Vervaeckes „At this point“), mehr noch von modernen Geräusch-Komponisten, Electro-Meistern und Klangexperimentatoren. Ein Abend voller Brüche, aber auch voller Gemeinsamkeiten, voller Virtuosität und Poesie, abgründiger Komik und absolut unlustiger Betrachtungen zur conditio humana, ein Ensemble-Abend. Riesenbeifall – was sonst?
Frank Piontek, 16.6. 2019
Fotos: © Bettina Stöß.