Im Publikum sitzen nicht weniger als 200 junge Leute. Schulplatzmiete, so heißt das. Was gespielt wird, könnte sie tatsächlich interessieren. Alan Turing war ein Held des 20. Jahrhunderts, dessen (friedliche) Arbeit maßgeblich dazu beigetragen hat, den zweiten Weltkrieg zu verkürzen und somit vermutlich Millionen Menschen das Leben zu retten. Zum Dank für seine unschätzbaren Dienste für das Königreich wurde das Mathematikgenie aufgrund seiner sexuellen Veranlagung in den 50er Jahren fertiggemacht: statt ins Gefängnis zu gehen, was für einen verurteilten Homosexuellen obligatorisch war, verpasste man ihm gnädigerweise eine Hormontherapie, die ihn in Depressionen trieb, die mutmaßlich zu seinem Suizid führten. Erst vor einige Jahren sah man in Großbritannien mit einer öffentlichen Entschuldigung ein, dass Turing und seinen vielen Leidensgenossen schweres Unrecht zugefügt worden war.
2022 erhielt er – als Genie, als Mensch und als Opfer eines restriktiven Systems – auf Geheiß des regieführenden Intendanten Jens-Daniel Herzog eine Oper geschenkt, die im Auftrag des Nürnberger Opernhauses auf die Bühne gebracht wurde. Anno Schreier schrieb die Musik, der Hausdramaturg Georg Holzer das Libretto – heraus kam ein Stück, das, so schwer auch das Thema anmutet, mit einer Leichtigkeit daherkommt, wie man sie eher von neuen angelsächsischen oder US-Amerikanischen Opern kennt. Schreier steht auf dem vernünftigen Standpunkt, dass man Leiden, Unglück und Tragödien nicht durch scharfe Dissonanzen, krasse Intervallsprünge und verstörende Instrumentationen ausdrücken muss. Er koppelte den unterhaltsamen Sound einer vielfach verwandelten Minimal Music mit einem symphonischen Apparat, lässt seine Sänger Singbares (und Verständliches!) singen und setzt auf elegante Übergänge, kurze Szenen und Rhythmen, die in die Beine und Arme fahren. Er zitiert die Revue, ohne Turings Leben zu einer Show zu verkleinern, entwirft rhythmische Abläufe, die einfach Spaß machen und überzieht sein Netz von ohrenschmeichelnden, deklamatorischen und arioseren Melodien mit einem hauchfeinen Gespinst von zarten Irritationen, die erst gar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass es hier einer mit Turings Schicksal zu leicht nahm. Um den dramaturgischen Affen Zucker zu geben, erfanden Schreier und Holzer, auf der Basis von sehr viel Wahrheit und ein wenig Dichtung, eine Kunstfigur, die nicht allein sexy daherkommt (die Jungs und Mädels im Publikum sehen: Oper, das ist nicht die dicke Frau, die am Ende stirbt), sondern als eine der fundamentalen Richtungen von Turings Denk-Arbeit in persona auftritt. Andromahi Raptis spielt eine attraktive, den Erfinder in quasi philosophische Gespräche hineintreibende Künstliche Intelligenz, schwarzgewandet, nicht übermäßig abstrakt, auch ein wenig als eine freche Spielmacherin, die die Geschichte von Turings Tod zu Turings Unsterblichkeit, also vom ersten bis zum letzten Bild, prägnant einrahmt. „Bin ich tot?“ fragt Turing seine Begleiterin Madame KI. „Wie man‘s nimmt“, sagt sie – und sie hat ja recht.
Was folgt, ist eine Mischung aus Vita und Passion; da steht ein praller Bigbandsound neben dem fast finalen Bach-Choral (eine der vielen eindrücklichen Szenen des Abends), das Percussion-Holzbläser-Gekickse neben dem zarten Streicherklang. Variatio delectat; es gibt sogar so etwas wie Humor, wenn zwei sichtlich englische Polizisten Turing im Kanon verhören. Wer genau hinhört, vermag sogar musikalisch-motivische Bezüge zwischen den Szenen zu hören, die von Ostinato-Ketten gestiftet werden, sinnigerweise erstmals auftretend in jener Szene, in der der ganz bei sich seiende Turing eine Fahrradkette repariert, während ihm eine Kommilitonin, Joan, einen Heiratsantrag macht.
Die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt die zwei Stündchen kurze Partitur unter Guido Johannes Rumstadt so souverän, dass man meint, dass sie nie etwas anderes gespielt habe als diese Mischung aus den Relikten einer gut gemachten und instrumentierten Unterhaltungsmusik und den Surrogaten einer theatralischen Opernmusik, der zum letzten Glück die Ohrwürmer fehlen mögen. Die Qualität des Musiktheaterstücks wird davon kaum tangiert, zumal mit Martin Platz ein Sänger auf der Bühne steht (und er steht und liegt fast immer an diesem Abend auf derselben), der die große Partie mit seiner hellen, klaren Tenorstimme – spielen kann er, man weiß das, ja sowieso – vollkommen erfüllt. Die zweite Hauptrolle spielt der Chor des Staatstheaters – Turing ist eine bedeutende Choroper, die ohne das, bis hin zur Richterszene ( ein bisschen im Stil des Oratorien-Mendelssohns) in uniformem Schwarz gewandete Vokalensemble nicht möglich wäre. Wieder hat sein Leiter Tarmo Vaask (und der Choreograph Ramses Sigl) erstklassige Arbeit geleistet. Ein Höhepunkt: das Einsprengsel von Rudyard Kiplings „We have fed our sea“, der Chor der Schiffbrüchigen – ein Analogon zu William Butler Yeats‘ Worten, mit denen Turings Beerdigung quasi bachisch begleitet wird.
Emily Newton ist die Joan, Almerija Delic die ängstliche Mutter, Wonyong Kang spielt Max, um den Holzer und Schreier eine melodramatische Geschichte erfunden haben, die die moralischen Probleme der Codeknackerei beleuchten soll: um die Deutschen, die nicht zu schnell merken sollen, dass die Engländer die Enigma-Maschine aufgebrochen haben, den Code also geknackt haben, um den Feind also in die Irre zu führen, wird ein britisches Schiff geopfert, auf dem sich Max‘ Bruder und eine Verlobte befinden. Wie gesagt: Dichtung und Wahrheit; schließlich sitzen wir in einer Oper und lesen kein Sachbuch. Auch der Auftritt des Premierministers höchstselbst (Nicolai Karnolsky tritt, echt karnolskyhaft, als typisch rauhbärtiger Mr. Churchill auf) spielt sich auf der von Mathis Neidhardt entworfenen, sich flexibel vergrößernden und verkleinernden Bühne in Turings Kopf ab, dessen Umrisse bis zu sechs Mal hintereinander geschachtelt werden. In diesem Kunstraum darf alles geschehen: auch die so surreale wie gleichzeitig reale Szene des Mannes, der aus Schutz gegen den Heuschnupfen mit einer Gasmaske durch die Gegend zu fahren pflegte – und sich hier in Zeitlupe vor einer weißen runden Wand von links nach rechts monologisiert. Vergleichbar poetisch ist der Einsatz eines Requisits, das in Turings Leben eine fatale Rolle spielt: möglicherweise brachte er, der das Märchen vom Schneewittchen so mochte, mit einem in Zyanid getränkten Apfel um. Der Rest ist aber kein Finale in Moll, sondern ein heiteres Necken zwischen dem Erfinder und seiner Erfindung, der netten Madame KI.
Am Ende: Großer Jubel für die Sänger, allen voran Martin Platz und Andromahi Raptis. Kein Wunder, dass den meisten jungen Besuchern die Aufführung gefallen hat (wobei ich fast sicher bin, dass auch Die Soldaten, gut inszeniert, bei den meisten Schülern ankommen würde). Man sieht: Der Turing-Test ist gelungen.
Frank Piontek, 12. Dezember 2022
„Turing“ Anno Schreier
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 26. November 2022.
Besuchte Vorstellung: 11. Dezember 2022
Inszenierung: Jens-Daniel Herzog
Musikalische Leitung: Guido Johannes Rumdstadt
Staatsphilharmonie Nürnberg