Besuchte Aufführung: 7.5.2017, (Premiere: 16.9.2016)
Vermischung von Realität und Fiktion
Zu einem vollen Erfolg für alle Beteiligten gestaltete sich die Aufführung von Puccinis „La Bohème“ am Theater Pforzheim. Das Publikum zeigte sich von den musikalischen und gesanglichen Leistungen samt der Regie sehr angetan und sparte am Ende nicht mit Applaus. Regisseurin Anja Nicklich ist in Zusammenarbeit mit Dirk Steffen Göpfert (Bühnenbild) und Antonia Mautner Markhof (Kostüme) eine ganz im Geiste Puccinis gehaltene romantisch anmutende, ästhetisch schöne, gleichzeitig aber auch klug durchdachte Inszenierung gelungen, die ganz für sich einzunehmen wusste. Hier wurde sowohl dem Auge als auch dem neugierigen Intellekt einiges geboten. Frau Nicklich nimmt die Musik ernst, spart aber nicht mit trefflichen eigenen Einfällen.
Silvia Micu (Mimi), Kwonsoo Jeon (Rodolfo)
Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick die ziemlich marode Mansarde der Bohèmiens, in der von den vier Männern ein lockerer, indes künstlicher Humor gepflegt wird, um sich angesichts der Querelen des Alltags bei Laune zu halten. Die Einrichtung ist mit einer Matratze, einem Stuhl mit Eimer sowie einigen riesigen Stapeln Papier recht spärlich gehalten. Verbindendes Glied durch alle vier Aufzüge hinweg ist eine im Hintergrund aufragende Wendeltreppe, die im ersten Bild in die oben gelegene Wohnung der in ihrem weißen Kleid engelsgleich anmutenden Mimi, in den folgenden Akten gleichsam direkt in den Himmel zu führen scheint. Die skurril-surreale winterliche Szenerie und die prächtig eingekleideten Choristen des zweiten Bildes, – darunter ein Varietédirektor, einige Kolombinen, ein auf einer Schaukel vom Schnürboden herabschwebender Händler – gemahnen stark an den Film „Moulin Rouge“: ein trefflicher Vergleich, da das Thema des Films dem der Oper nicht unähnlich ist. Hier zieht das leichte Mädchen Musetta ihren Anbeter Alcindoro wie ein Hündchen an einer Leine hinter sich her – ein köstliches Bild. Im vierten Akt sind die Wände der Mansarde kahl. Rodolfo hat das Papier, mit dem sie beklebt waren, anscheinend heruntergerissen, um darauf seine dichterischen Ergüsse zu schreiben. Nun sieht man als Ausblick nur noch ein tristes Grau. Der Lebensstandard der vier Freunde nimmt zunehmend ab, die Armut breitet sich immer mehr aus.
Schreiben ist das Hauptanliegen von Rodolfo. Er nimmt seine Berufung als Dichter wahrlich sehr ernst. Bereits zu Beginn sitzt er auf der Matratze und schreibt, während Marcello die Wand bemalt. Im Folgenden vermischen sich Realität und Fiktion. Die Regisseurin deutet das Ganze als Erinnerung Rodolfos, die bei der Matratze ihren Ausgangspunkt nimmt und auch bei ihr endet. Am Anfang träumt er sich in die Handlung hinein. Am Ende wendet er sich von der sterbenden Mimi ab und gerät mit Marcello in Streit. Just in diesem Augenblick ist die Näherin auf einmal spurlos verschwunden. Auf der leeren Matratze bricht Rodolfo in Verzweiflung aus und beginnt wiederum wie wild zu schreiben. Er scheint das zu Papier zu bringen, was bereits lange zuvor geschehen ist – oder auch nicht. Ungewiss bleibt, ob seine Beziehung zu Mimi real war oder ob sie nur seiner Phantasie entsprungen ist. Beides ist möglich. Eine konkrete Antwort gibt die Regisseurin nicht. Die Frage bleibt offen.
Rodolfo ist bei Frau Nicklich ein großes Kind, das mit der Situation nicht wirklich zurechtkommt. Mimi bedeutet für ihn so etwas wie eine Muse. Sie ist trotz ihrer Krankheit die treibende Kraft in der Beziehung. Von Anfang an steht sie, kaum sichtbar, am oberen Ende der Wendeltreppe und beobachtet das Treiben der Männer. Das ist eine Frau, die ganz genau weiß, was sie will. Sie bläst selbst die Kerze aus und setzt alles daran, Rodolfo nach allen Regeln der Kunst zu verführen, was diesen sehr irritiert. Mimi ist sich bewusst, dass ihr Leben nicht mehr allzu lange währen wird und sucht jemanden, der ihr in ihrer schlimmen Krankheit zur Seite steht. Diese Aufgabe weist sie Rodolfo zu. Obwohl zwischen den beiden jungen Leuten eine heftige Liebe entbrennt, erreichen sie ihre jeweiligen Ziele nicht. Letztlich sind sowohl Mimi als auch Rodolfo unfähig, dem jeweils anderen zu helfen. Die Hoffnung, die die junge Frau anscheinend noch hegt, ist zum Scheitern verurteilt. Dennoch nimmt sie ihr Leben, solange es ihr noch möglich ist, selbst in die Hand. Im vierten Bild kehrt sie im Brautschleier in die Mansarde zurück. Drauf und dran, ihren neuen Liebhaber zu ehelichen, hat sie diesen wohl kurzerhand vor dem Traualtar stehen lassen und wendet sich wieder Rodolfo zu – ein sehr poetisches Bild.
Franziska Tiedtke (Musetta), Parpignol, Chor
Von den Sängern vermochte insbesondere die junge Silvia Micu zu gefallen, die voll in der Rolle der Mimi aufging. Mit guter stimmlicher Fokussierung, warmer Tongebung, einfühlsamer Linienführung und beseeltem Ausdruck zog sie alle Register ihrer Partie, die sie auch darstellerisch trefflich ausfüllte. Dass sie oft Zwischenapplaus erhielt, war nur zu verständlich. Auf ihre weitere Entwicklung kann man gespannt sein. Neben ihr bewährte sich als Rodolfo Kwansoo Jeon. Auch er bestach mit einem gut sitzenden, elegant geführten und ausdrucksstarken Tenor und hatte das Publikum von Anfang an auf seiner Seite. Etwas ausgespart wurden die Zwischentöne, die sich im Lauf der Zeit aber sicher noch einstellen werden. Gut gefiel Franziska Tiedtke, die sich mit kokettem Auftreten und frischem, vorbildlich verankertem sowie stilsicherem Sopran als gute Musetta erwies. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass hier eine Mimi nachwächst. Dagegen fiel der flach und nicht gerade mit vorbildlicher italienischer Technik singende Marcello von Markus Vollberg ab. Paul Jadach s dünn und halsig klingender Schaunard ist ebenfalls noch entwicklungsfähig. Wunderbar dagegen war Aleksandar Stefanoski, dessen Colline sich durch sonoren, bestens fundierten und ebenmäßig dahinfließenden Bass-Wohlklang auszeichnete. Dieser treffliche Bass ist größerer Häuser würdig! Spencer Mason machte aus dem Hauswirt Benoit wohl bewusst eine stimmliche Karikatur. Solide gab Cornelius Burger den Alcindoro. Dong-Seok Im (Parpignol), Rigobert Störkle (Sergeant) und Ivan Zlabek (Zollwächter) rundeten das Ensemble ordentlich ab. Solide präsentierte sich der von Salome Tendies und Carl Philipp Fromherz einstudierte Chor, Extrachor und Kinderchor des Theaters Pforzheim.
Kwonsoo Jeon (Rodolfo)
Eine gute Leistung ist Mino Marani am Pult zu bescheinigen, der zusammen mit der bestens disponierten Badischen Philharmonie Pforzheim einen impulsiven und intensiven Klangteppich erzeugte, der sich zudem durch einen hohen emotionalen Gehalt auszeichnete.
Ludwig Steinbach, 8.5.2017
Die Bilder stammen von Sabine Haymann