Kaum zu glauben, aber wahr: Antonín Dvořáks bekannteste und beliebteste Oper war in der Scala noch nie gegeben worden! Allerdings hatte sie in den italienischen Opernhäusern nie einen leichten Stand und wurde erst in den letzten beiden Jahrzehnten manchmal gegeben, so in Turin im Februar 2007 und in Rom in der Saison 2014/15.
Ich habe die Musik dieses Meisterwerks immer geliebt, aber was Tomás Hanus aus dem Orchester des Hauses herausholte, das war einfach sensationell. Die Dichte dieser romantischen Musik, die Volksweisen, alle Emotionen der Figuren, waren in einem nie versiegenden Strom von Schönheit herausgearbeitet. Der tief bewegende Schluss war mindestens so tränentreibend wie das Finale der „Madame Butterfly“.
Hanus verfügte allerdings auch über ein ausgezeichnetes Ensemble (in dem vier Namen dem Wiener Publikum in genau diesem Werk wohlbekannt sind). Die Titelrolle wurde von Olga Bezsmertna überzeugend verkörpert, denn auch wenn ihre Stimme kein spezielles Timbre aufweist (was im berühmten „Mondlied“ schade war), so sang sie doch mit großer Hingabe und setzte die schwierigen Regieanweisungen (dazu später) perfekt um. Dmitry Korchak wies mit der Interpretation des Prinzen nach, dass er die Belcanto-Gefilde, in denen er bisher unterwegs war, wohl bald verlassen wird, denn er sang mit dem Glanz und Strahl eines echten Zwischenfachtenors. Damit wertete er die unsympathische Rolle (warum wird bei unsympathischen Tenorgestalten eigentlich immer nur auf Pinkerton verwiesen?) stark auf. Der Bass von Jongmin Park passte perfekt zum Wassermann in seinem Spektrum zwischen strengem und wehmütigem Vater der Nixe. Sehr gut auch die mir bisher unbekannte Russin Elena Guseva, die der fremden Fürstin den rechten Hochmut verlieh, ohne dass ihre exponierten Töne schneidend klangen. Von der imposanten Jezibaba der Okka von der Damerau hätte ich mir eine gefestigtere Tiefe gewünscht. Der tschechische Bariton Jirí Rajnis sang problemlos einen flotten Jagdaufseher (welche Rolle im Libretto als Tenor angegeben ist). Sehr erfreulich auch der Mezzo von Svetlina Stoyanova als verschreckter Küchenjunge. Wunderbar harmonierten die Nixen von Hila Fahima, Juliana Grigoryan und Valentina Pluzhnikova (letztere von der Accademia der Scala) in ihren Terzetten. Der Weißrusse Ilya Silchukou ergänzte bestens als Jäger, und der von Alberto Malazzi bestens einstudierte Chor des Hauses gab wie immer sein Bestes.
Die Regisseurin Emma Dante ist in Italien für ihre gegen den Strich gebürsteten Produktionen bekannt, und ich hatte angesichts des so in der Natur verankerten Werks so meine Befürchtungen. Sie erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet, denn Dante hatte durchaus gute Einfälle. So bestand Rusalkas Unterleib anstatt eines Schwanzes aus Tentakeln, was die Schwierigkeiten der Nixe, das menschliche Gehen zu erlernen, unterstrich. Ihr erster Auftritt wurde dadurch gelöst, dass sie hereingefahren wurde, und auch die Verwandlung war sehr geschickt gemacht. Die Natur fand ihre Verkörperung im Abbild von Wasser und Wald (ersteres mit einem in einer Kirchenruine befindlichen kleinen Bassin etwas unterbelichtet, letzterer fabelhaft durch einen aus grünen Blättern bestehenden Vorhang, der dann den blick auf den Ballsaal freigibt (Bühnenbild: Carmine Maringola).
Die Wesen des Waldes wurden von Tänzern mit Geweihen versinnbildlicht, die Ängste des Prinzen durch Figuren mit türkisen Mützen à la Ku-Klux-Klan. Ebenso überzeugend das großartige Ballett, wo Rusalka vergebens versucht, mitzutanzen. Unter den teils surrealen, der jeweiligen Handlung angepassten, Kostümen von Vanessa Sannino gefiel mir das hocherotische der fremden Fürstin am besten. Die grundlegenden Beiträge von Cristian Zucaro (Beleuchtung) und Sandro Maria Campagna (Choreographie) dürfen nicht vergessen werden.
Die Vorstellung wurde von einem Publikum, das diesmal nicht zum Ausgang raste, um ein Taxi zu ergattern oder ein noch offenes Restaurant zu finden, lange gefeiert.
Eva Pleus, 28. Juni 2023
Antonín Dvořák
Rusalka
Teatro alla Scala
Premiere der Wiederaufnahme: 6. Juni 2023
Besuchte Vorstellung: 22. Juni 2023
Regie: Emma Dante
Dirigent: Tomás Hanus
Orchestra del Teatro alla Scala