Vorstellung am 23. Februar 2022
Militarismus versus Umweltverschmutzung
Nach einer knapp achtstündigen Flugreise von Dubai nach Madrid in eine noch am selben Abend in der spanischen Metropole stattfindende „Götterdämmerung“ von Richard Wagner zu gehen, ist wohl auch nicht jedermanns Sache. Aber damit ging unter der musikalischen Leitung von Pablo Heras-Casado im Teatro Real vor dem spanischen Königspalast der über vier Spielzeiten aufgeführte „Ring des Nibelungen“ in der altbekannten Inszenierung von Robert Carsen und den Bühnenbildern und Kostümen von Patrick Kinmonth zu Ende. Der extra effort lohnte sich aber, denn es war eine gute Aufführung, insbesondere aufgrund der musikalischen und sängerischen Leistungen. Wie schon im „Siegfried“ vor einem Jahr vermochte Heras-Casado das Orquesta Titular del Teatro Real zu einer Höchstleistung anzuspornen, mit großer Dynamik im mit 104 Musikern relativ nah an die Originalbesetzung herankommenden Klangkörper. Dabei saßen – wegen Corona – die (sonst in der Regel gar nicht möglichen) sechs Harfen in den linken Proszeniumslogen und die Trompeten, Posaunen und Basstuba in den rechten Proszeniumslogen. Das brachte allerdings Nachteile in der Klangbalance mit sich, wenn man auf der rechten Seite zu nah am schweren Blech saß. Wenn auch das Zwischenspiel zur Waltraute-Szene im 1. Aufzug recht langatmig ausfiel, so gelang Heras-Casado mit dem Orchester ein wunderbarer und emotional einnehmender Trauermarsch sowie ein großartiges Finale.
Andreas Schager war als Siegfried wieder der Liebling des Abends und bekam den meisten Applaus. Er ist in der Tat ein Sängerdarsteller mit außerordentlich großem Charisma und entsprechender schauspielerischer Intensität und Intelligenz. Auch stimmlich meisterte er die Rolle mit seinem stabilen Heldentenor sehr gut, natürlich zumeist die kraftvolle Linie verfolgend – wie man ihn halt kennt. Besonders schön seine lang gehaltenen Bögen. Ricarda Merbeth sang auch am dritten Abend des „Ring“ von Madrid wieder die Brünnhilde. Wenngleich sie die Herausforderungen der Rolle durchgehend erfüllte, stand die stimmliche Produktion zu sehr im Vordergrund, sodass die darstellerische Komponente – gerade mit diesem agilen Partner – nicht ganz zum erwünschten Recht kam. Da fehlte es signifikant an glaubhafter Empathie und Emotion. Auch verfällt Merbeth in der unteren Mittelage und Tiefe allzu oft in eine Art Sprechgesang. Ich halte sie nach wie vor nicht für eine klassische Hochdramatische.
Stephen Milling war ein finsterer und absolut souveräner, sichtbar alle Fäden ziehender Hagen mit gewaltigem Bass, den er nicht nur bei den Mannenrufen eindrucksvoll einsetzte. Joachim Goltz war als Gunther eingesprungen und sang ihn mit einem gut geführten und der Rolle bestens entsprechenden Bariton. Amanda Majeski war vokal eine etwas zu leichte Gutrune, spielte die Rolle dafür aber sehr ansprechend und engagiert. Schnell war sie nach anfänglichen Bedenken gegen den Trank, mit dem Siegfried Brünnhilde vergessen sollte, von Hagens Rat überzeugt. Martin Winkler interpretierte wieder seinen altbewährten Alberich. Seine nächtliche Szene mit Hagen geriet zu einem der stärksten Momente des Abends. Michaela Schuster überzeugte ebenso routiniert als Waltraute. Sie ist immer eine beeindruckende Persönlichkeit auf der Bühne. Die Nornen und Rheintöchter waren auf Augenhöhe mit diesem erstklassigen Protagonisten-Ensemble besetzt. Insbesondere konnte Claudia Huckle mit ihrem klangvollen Mezzo als 1. Norn und Flosshilde überzeugen. Kai Rüütel sang die Zweite Norn und Amanda Majeski die Dritte. Elisabeth Bailey war als Woglinde und Maria Miró als Wellgunde zu erleben. Der von Andrés Máspero einstudierte Coro del Teatro Real sang stimmstark und bewegte sich auch dramaturgisch sehr geschickt, womit er dazu beitrug, dass der 2. Aufzug der beste der Aufführung wurde.
Die von Oliver Kloeter für das Teatro Real überarbeitete Produktion wirkte, zumal mit dem ebenfalls neueinstudierten Lichtdesign von Guido Petzold, nach ihren immerhin um die 20 Jahre erstaunlich frisch und lebendig. Ob alles unbedingt in militärischer Ästhetik und immer wiederkehrenden Müllansammlungen und Nornen als Putzfrauen stattfinden muss, steht auf einem anderen Blatt. Robert Carsen sagte in einem Interview mit dem Teatro Real zwar, dass man bei jeder Wiederaufnahme, wie in den letzten drei Jahren in Madrid, an der Inszenierung arbeite. Da ich sie aber in Köln bei ihrer Entstehung von 2000 bis 2003 und 2011 in Schanghai erlebt habe, konnte ich keine wesentlichen Änderungen feststellen.
Der Prolog beginnt damit, dass die Nornen dasselbe Schicksal wie ihre Mutter Erda im „Siegfried“ erleiden, nämlich gelangweilt als Putzfrauen mit den berufsüblichen, aber etwas aus der Mode gekommenen Wasserkübeln den Bühnenboden, um das wirr aufeinander gestapelte und schon verpackte Mobiliar von Walhall zu schrubben. Das ist einfach unerträglich, und wenn man etwas hätte ändern wollen, dann doch wenigstens das bitte! Was spricht denn dagegen, dass die allein aufgrund ihrer Verbindung zur Urmutter Erda, die den ganzen „Ring“ bekanntlich überleben wird, wenn auch schlafend, die „Götterdämmerung“ eröffnenden Nornen als souveräne Figuren vor dem visualisierten Verfall Walhalls ihre so bedeutsamen Zukunftsbeschwörungen abgeben?!
Auf die Nerven geht auch der militärische Kommiss in der Gibichungen-Szene des 1. Aufzugs. Hier werden durch militärisch gedrillte Assistenten dem Chef der Militärbürokratie Gunther an dessen riesigem Schreibtisch in steifestmöglicher Form Akten vorgelegt und nach Unterschrift schnurstracks wieder ins Off befördert. Kurz davor waren Brünnhilde und Siegfried im Vorspiel noch auf einer öden, mit Stroh bedeckten Spielfläche zu erleben, auf der man altes Gerümpel, die Steuerstufe einer Bombe, Militäruniformen, Gewehre und Stahlhelme verblichener Soldaten bewundern konnte. Ebenfalls nicht unbedingt das reizvollste Ambiente, in dem die Treueschwüre der beiden postuliert werden.
Was aber viel wesentlicher ist als die optische Problematik: Die bis zum letzten Exzess mit der – in dem Moment wirklich überraschenden – Militäruniform Siegfrieds mit Schiebermütze als Bräutigam im 2. Aufzug betriebene Militarisierung der „Götterdämmerung“ lenkt signifikant vom eigentlichen Anliegen des Regieteams um Carsen und seines eigentlichen Regiekonzepts ab, der Zerstörung der Umwelt durch den Menschen. Das ist das eigentliche Thema dieses „Ring“, das im „Rheingold“ und damit in der Exposition noch klar im Vordergrund stand. Im Finale dieser Interpretation der Tetralogie hat man den Eindruck, dass es dem Regisseur eher um eine kriegerische Auseinandersetzung eines Clans um die Macht geht, der die Herrschaft über den Rheinabschnitt von Arnheim im Norden und Worms im Süden (dokumentiert durch zwei große Landkarten an der Wand seines Befehlsstandes) innehat. Dagegen verliert sich dann auch etwas das Thema der ewigen Liebe zwischen Siegfried und Brünnhilde, die nach dem Schlussgesang entrückt die Bühne nach hinten verlässt, über die nur leicht zündelnden Flammen des untergehenden, aber nie sichtbaren Walhalls hinweg. Vom Rhein war eh nichts mehr zu sehen…
Eine Sorge jedoch scheint das Teatro Real nicht mehr zu haben, zumindest bei Wagner. Das Haus war fast vollbesetzt, insbesondere das Parkett. Und dabei war es bereits die achte von neun Aufführungen der Serie. In Spanien ist man offenbar anders als in Wien wieder ganz in die Oper zurückgekehrt. Noch nie sah ich lange Schlangen vor dem Einlass des Real…
Aus aktuellem Anlass noch ein Detail am Schluss. In der Dernière am 27. Februar bedeckte man die Leiche Siegfrieds nicht mit der roten imaginären Gibichungen-Flagge, sondern mit dem der Ukraine, als Ausdruck der Solidarität für das Land in diesen Tagen…
Fotos: Javier del Real
Klaus Billand/1.3.2022