Wenn Opernhäuser eine Produktion nach einer Weile auch mit geänderter Besetzung wiederaufnehmen, wird dies nicht als Premiere bezeichnet. Insofern schummelt die Oper Dortmund, wenn sie die 2019er Inszenierung von Puccinis Turandot nun als „Premiere der Neueinstudierung“ unter der Rubrik „Premieren“ anbietet. In musikalischer Hinsicht lohnt sich diese Wiederaufnahme der von Franco Alfano vollendeten Oper allerdings allemal. Mit Alfred Kim steht ein international gefeierter Tenor als fremder Prinz Calaf auf der Bühne, und die Titelpartie wird von Bianca Mărgean gesungen, der wohl auch eine internationale Karriere bevorsteht. Zwischen Spinto- und Heldentenor (oder auch beide Fächer abdeckend) angesiedelt, verkörpert Kim rollendeckend den Prinzen, der in dieser Oper nur ein Ziel kennt: Die Prinzessin Turandot zu erobern. Dies gelingt ihm eindrucksvoll mit seiner kräftigen, gleichwohl eleganten, baritonal gefärbten Stimme, die sicher in allen Lagen und dynamischen Bereichen strahlt. (Mit dieser Gabe ist er glaubhafter als im realen Leben, wo er in Paris aufgrund sexueller Übergriffigkeit und Körperverletzung einer Frau verurteilt wurde.) Prinzessin Turandot ist traumatisiert von Gewalt in ihrer Ahnenreihe (vielleicht auch an ihr selbst verübt), weshalb sie sich aller männlichen Annäherungsversuche erwehrt.

Sie will sich nur dem Bewerber ausliefern, der ihre drei Rätsel zu lösen vermag, andernfalls wird er geköpft – so ist es ins Gesetz gegossen. Dieses Schicksal ist schon einigen Herren widerfahren. Mărgean lässt schon bei ihrem ersten Auftritt mit eiskalt herausgeschleuderten Spitzentönen aufhorchen. Doch im Laufe des Abends zeigt sie, dass sie auch warm und weich singen kann, mit gut sitzendem Sopran ausdrucksvoll längere Passagen gestalten kann und Kim eine ebenbürtige Partnerin ist. Ihr stimmliches Eis ist gleichsam geschmolzen, nachdem Calaf Turandots drei Rätsel gelöst hat. Ihr Schicksal will sie aber nicht hinnehmen, obwohl ihr greiser Vater, Kaiser Altoum (mit deutlich artikulierendem Tenor markant gesungen von Yoonkwang Immanuel Kang), auf Einhaltung des Gesetzes besteht. Doch Calaf gibt ihr noch eine Chance: Wenn sie bis zum Morgengrauen seinen Namen herausfände, würde er den Freitod wählen. Die Chance hierzu bietet sich ihr durch die zwei Personen, mit denen Calaf zuvor gesprochen hat: Sein totgeglaubter Vater Timur, gestürzter, mit Blendung gefolterter und vertriebener Tatarenfürst, nun inkognito unterwegs, und seine ihn betreuende Sklavin Liù. Diese ist in Calaf verliebt. Beide werden gefangengenommen, damit sie den Namen des Prinzen herausgeben können. Doch Liù übernimmt die Verantwortung, behauptet, als einzige den Namen zu kennen, und nimmt sich kurz nach Beginn der Folter das Leben und damit den Namen mit in den Tod, um ihren Prinzen zu retten. Der lyrische Sopran von Anna Sohn blüht herrlich auf, wenn die zierliche Sängerin Liùs Liebe und Leidenschaft zum Ausdruck bringt. Sie gestaltet die großen Kantilenen mit langem Atem und erreicht sicher die strahlenden Höhen. Mit eher hell timbriertem Bass fehlt Artyom Wasnetsov in der Verkörperung des Timur etwas fürstliche Autorität. Allerdings muss er, da er erblindet ist, oft auf allen Vieren über die Bühne kriechen oder am Boden kauern. Besonderen Spaß muss Puccini in der Ausgestaltung der drei Minister Ping, Pang und Pong gehabt haben. Sie sind in allen drei Akten präsent, kontrollieren und steuern das Geschehen und haben zu Beginn des zweiten Aktes eine eigene ausgedehnte Szene. Puccini charakterisiert sie mit typisch chinesischen, flotten Melodien in pentatonischer, also typisch fernöstlicher Tonart. Jeweils eigene Individualität besitzen sie nicht, sondern sind drei Gesichter einer Bürokratie. Einheitlich fernöstlich gewandet, sind sie kaum voneinander zu unterscheiden und übersetzen die schnellen musikalischen Skalen in temperamentvolle Schauspielerei mit reichlich Gestik, zum Teil mit Fächern. Diese körperlichen Herausforderungen meistern Daegyun Jeong (Ping), Min Lee (Pang) und Sungho Kim (Pong) eindrucksvoll und singen dabei auch noch sicher und präsent, wobei Chortenor Lee etwas zurückfällt, aber im Ensemble von den beiden Kollegen gut aufgefangen wird. Der Opernchor Theater Dortmund und der
Projekt-Extrachor sind ein in dunkler Arbeitskluft gehülltes Volksheer, dem szenisch und gestisch viel abverlangt wird. Dazu singen sie, einstudiert von Fabio Mancini, überwältigend und auch in den leiseren Passagen ausdrucksvoll – eine grandiose Leistung!

Für die Inszenierung ist es Regisseur Tomo Sugao wichtig, das patriarchalische System, in dem Frauen die Opfer sind, zu zeigen. Das realisert er eher unauffällig, und er lässt Puccinis Musik sprechen. Mit der stimmlichen Wucht von Alfred Kim und den leidenschaftlichen Stimmen der beiden Sängerinnen ist dies auch gut gelungen. Die ganze Geschichte lässt er im Fernen Osten ungefähr zur Jetztzeit spielen; lediglich eine große Drachenskulptur anlässlich Turandots erstem Auftritt und das Aussehen der drei Minister lassen China anklingen. Deren Szene zu Beginn des zweiten Aktes, die aus der Unterbühne heraufgefahren wird, spielt in chinesisch anmutenden Räumlichkeiten, wobei die roten Lampenschirme eher an Japan erinnern, aber was weiß der Rezensent schon über diese Kulturen. Ansonsten ist die Bühne neutral einheitlich von blutrot getränkten dunklen, hohen Wänden und einer ebensolchen absenkbaren Decke begrenzt. Zusammen mit einer abwechslungsreichen, raffinierten Ausleuchtung werden so beklemmende Stimmungen erzeugt. Auf der Rückseite können verschiebbare Elemente große abgerundete Öffnungen erzeugen, die den besungenen Mond ebenso symbolisieren wie verschiedene Auf- und Abtritte geschickt ermöglichen. Die Kostüme sind individuell (außer bei den drei Ministern), geschmackvoll und angemessen (Bühne: Frank Philipp Schlößmann, Beleuchtung: Florian Franzen, Kostüme: Mechthild Seipel). Am Ende wird dem toten Kaiser gehuldigt, der zuvor schon Schwächeanfälle erdulden musste, und Calaf hängt sich dessen Mantel um, als wäre es ihm nicht nur um Turandot gegangen, sondern auch und vor allem um die Kaiserwürde. Insgesamt wirkt die Inszenierung, als hätte ein international tätiger schweizerischer Regisseur Bizets Carmen irgendwo in Fernost auf die Bühne bringen dürfen und wären die meisten Rollen mit italienischem Personal worden, damit irgendwie eine westeuropäische Atmosphäre erzeugt wird (dass viele Rollen in Dortmund mit koreanischen Sängerinnen und Sängern besetzt sind, liegt eher an deren hohen sängerischen Qualität als an deren Aussehen).

Zum musikalischen Erfolg der Aufführung tragen nicht unwesentlich die Dortmunder Philharmoniker bei. Sonore und farbige Holzbläser, rundes und fülliges Blech und nicht vordergründig auftrumpfendes exotisches Schlagzeug erklingen kultiviert aus dem Orchestergraben. In der besuchten Vorstellung leitete der Erste Kapellmeister Motonori Kobayashi souverän die Kräfte und ließ den Solistinnen und Solisten auf der Bühne genügend Raum zur Entfaltung. Puccinis durchkomponierte Partitur erlaubt keinen Zwischenapplaus; erst ein nach gefühlt zwei Sekunden nach „Nessun dorma“ erklingendes kräftiges Bravo motivierte Teile des Publikums zum Applaus für Alfred Kim. Dafür hielt es das Publikum nach Verklingen der letzten Töne nicht auf den Sitzen, um seine dankbare Begeisterung für diese Aufführung zu zeigen. Für den 5. Februar ist Asmik Grigorian als Turandot angekündigt; diese Vorstellung ist ausverkauft.
Bernhard Stoelzel 21. Dezember 2025
Turandot
Giacomo Puccini
Oper Dortmund
Besuchte Vorstellung: 19. Dezember 2025
Premiere der Neueinstudierung: 30. November 2025
Inszenierung: Tomo Sugao
Leitung: Motonori Kobayashi
Dortmunder Philharmoniker