UA: 5. 1. 2014
Kindlich-poetische Lebensbejahung
Zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten gestaltete sich die Uraufführung von Fabrice Bollons Familienoper „Oscar und die Dame in Rosa“. Damit hat der GMD des Freiburger Theaters seinem Stammhaus und dessen Publikum ein schönes Neujahrsgeschenk gemacht, das er auch selbst dirigierte.
Bollons erste Oper, die sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet ist, beruht auf der gleichnamigen Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt aus dessen „Zyklus des Unsichtbaren“. Daraus hat Clemens Bechtel, der auch für die gelungene Inszenierung verantwortlich zeigte, ein vielschichtiges Libretto verfasst, das trotz einer tragischen Grundsituation auch zahlreiche heitere Stellen aufweist. Nicht zuletzt dieser gelungene Spagat zwischen ernsten und lustigen Elementen macht den großen Reiz des Werkes aus, das bei dem neuen Opern anscheinend durchaus aufgeschlossenen Freiburger Publikum dann auch auf begeisterte Zustimmung stieß. Erzählt wird die Geschichte des sterbenskranken 10jährigen Oscar, der sich seines traurigen Loses wohl bewusst ist, aber wütend darüber wird, dass seine Eltern nicht mit ihm darüber sprechen wollen. Trost bringt ihm die liebenswürdige, taffe und recht skurrile Oma Rosa, eine ehemalige Catcherin und Meisterin im Schimpfen, deren oft recht gewöhnliche, ordinäre Ausdrucksweise viel zur heiteren Komponente des Stücks beiträgt. Sie verrät ihm ihr Geheimnis und rät ihm, jeden Tag als zehn Jahre seines Lebens anzusehen. Zudem solle er vertrauensvolle Briefe an Gott schreiben. Oscar geht auf ihren Vorschlag ein und durchlebt im Folgenden die verschiedensten Lebensabschnitte, seine erste Liebe zu Peggy Blue, Heirat, Midlifecrisis und Endstadium. Auf diese Weise durchlebt er 110 Jahre und gewinnt zunehmend an Erfahrung, die nur das Alter bringen kann. Am Ende steht die Erkenntnis, dass das Sterben ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebens ist. Ruhig und mit sich und der Welt im Reinen geht Oscar nach einem erfüllten Leben in den Tod – nicht ohne sich zuvor mit seinen Eltern versöhnt zu haben.
Xavier Sabata (Oma Rosa), Sharon Carty (Oscar)
Ein tristes Werk? Nein, durchaus nicht. Trotz ihres traurigen Ausgangspunktes ist die Oper von Bollon äußerst lebensbejahend. In ihrem ausgedehnten Streifzug durch alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins erweist sich die Handlung als Parabel über den Sinn des Lebens, als flammendes Plädoyer für das Leben in allen seinen Ausprägungen. Hier geht es letzten Endes nicht darum, die Angst vor dem Sterben irgendwie zu besiegen, sondern um die Etablierung eines festen Standpunktes im Leben, wobei hilfsbereite Ratgeber wie Oma Rosa immer willkommen sind. Gleich Schmitts „Zyklus des Unsichtbaren“ legen auch Bollon und Bechtel großen Wert auf die christlichen und philosophischen Aspekte des Ganzen, wobei sie im Vergleich zur literarischen Vorlage manche Handlungsstränge reduzieren, andere aber ausdehnen. Ihr tiefschürfender Blick in das Seelenleben Oscars erfährt derart noch eine zusätzliche Intensivierung. Während er lernt, den Tod zu akzeptieren, sind seine Eltern dazu nicht in der Lage. Sie verzweifeln an der Situation, was wiederum Oscar wütend macht. Konfrontationen zwischen der kindlichen und der Erwachsenenwelt sind die Folge, die letztlich zu einem harmonischen Ausgleich gebracht werden. Ein wesentlicher Punkt dabei ist die Kombination von Oscars Reifungsprozess mit seiner kindlichen Perspektive, aus der heraus er die Geschehnisse um sich herum betrachtet.
Xavier Sabata (Oma Rosa), Sharon Carty (Oscar)
Dieser kindlich-imaginäre Blick auf eine Welt, in der ein ödes Krankenzimmer zu einem bunten, farbenreichen Abenteuerspielplatz wird, die Grenzen zwischen Realität und Traum mithin fließend sind, steht im Zentrum von Bechtels Inszenierung. Olga Motta hat ihm einen abstrakt anmutenden, in verschiedenen Coleurs erstrahlenden Einheitsraum auf die Bühne gestellt, dessen zunächst diffuse Ausleuchtung eine beklemmende Wirkung entfaltet, aber zunehmend einen schillernd bunten Charakter entfaltet. Er ist mit vereinzelt dastehenden Türrahmen und einem überdimensionalen Bett ausgestattet, auf dem die kleinen Patienten ausgelassen herumtollen und sich vergnügen können. Letzteres stammt aus der Sphäre der Erwachsenen, deren Welt der Regisseur von derjenigen der jungen Generation deutlich abgegrenzt. Die Handlung wird, wie bereits erwähnt, aus der Perspektive Oscars erzählt, woraus sich erklärt, dass die Eltern und Ärzte in ihren langen Mänteln, unter denen sie anscheinend auf Stelzen gehen, geradezu riesig wirken, während die Darsteller der Kinder sowie Oma Rosa in ihrer normalen Größe auftreten. Ihre Einstellung zum Leben bestimmt die Handlung, nicht die der Eltern, die abgehoben und sogar ein wenig furchteinflößend dargestellt werden.
Xavier Sabata (Oma Rosa), Sharon Carty (Oscar), Wolfgang Newerla (Vater), Sigrun Schell (Mutter)
In diesem Ambiente setzt Bechtel die Grundpfeiler seines Librettos auf sehr assoziative Weise und mit großem Einfühlungsvermögen um, aber nicht ohne dem Ganzen ein ansprechendes innovatives Flair zu verleihen. Die religiösen, philosophischen und psychoanalytischen Aspekte des Stoffes werden von ihm trefflich herausgestellt, aber nie überbetont, und erschließen sich dem Verständnis leicht. Insbesondere die Aufzeigung des christlichen Wesensgehalts ist dem Regisseur vorzüglich gelungen. Die Briefe, die Oscar zunächst nur schreibt, um Oma Rosa einen Gefallen zu erweisen, und deren von ihm vorgelesener Text gesprochen aus der Lautsprecheranlage des Theaters ertönt, werden ihm im Lauf des Abends immer mehr zu einem Bedürfnis. Er lernt, dass Gott jemand ist, dem man sich voll und ganz anvertrauen kann und entwickelt aus dieser Erkenntnis heraus ein ganz persönliches Christentum, das indes auch etwas banaler Natur sein kann, wie die Szene mit den Schneeflocken zeigt. Die Briefe dienen ihm gleichzeitig als Hilfsmittel zur Selbstreflektion und -analyse. In seiner Auseinandersetzung mit seinen einzelnen Lebensabschnitten wird er selber zum Empfänger seiner Schreiben. Diese ermöglichen ihm einen differenzierten Blick auf seine Umwelt. Psychologischen Erkenntnissen trägt Bechtel dadurch Rechnung, dass er Oma Rosa weniger als reale Person, sondern vielmehr als Ausfluss der Phantasie Oscars begreift. Ihre Existenz ist untrennbar mit derjenigen des kranken Jungen verbunden. Sie entspricht ganz dessen Vorstellungen und ist als Manifestation eines in ihm allmählich aufkeimenden metaphysischen Denkens zu verstehen – ein überzeugender Ansatzpunkt, dessen Berechtigung sich aus der Geschichte von Schmitt ergibt, und zwar konkret aus Oscars letztem Brief an Gott. Oma Rosa ist sich dabei ihrer Funktion wohl bewusst. Dieses imaginäre Verständnis dieser Figur vorausgesetzt ist die Handlung als Kampf des Knaben gegen sich selbst zu begreifen, in der aber nicht der Tod, sondern das Leben sein Gegner ist. Nicht dessen Dauer ist entscheidend, sondern was man daraus macht. Das erkennt auch Oscar. Indem er zunehmend zu leben versteht, weiß er schließlich auch zu sterben. Als „Geschichte über das pralle Leben“, als „Liebeserklärung an das Leben“ wollen Bollon und Bechtel ihre Oper verstanden werden. Und diese Intention ist in jeder Beziehung voll aufgegangen. Die Inszenierung machte einen atmosphärisch dichten, anrührenden und positiven Eindruck.
Christoph Waltle (Popcorn), Kinderchor
Bollon hat eine abwechslungsreiche Musik geschrieben, die sich aus vielfältigen Elementen zusammensetzt. Er klebt nicht an einer bestimmten Form, sondern bezieht mehrere Stilrichtungen in seine Komposition mit ein. Der Anfang scheint den Hörer in eine Art kosmische Sphäre mit ätherischen Klängen zu versetzen. Im Folgenden erscheint die Tonsprache mal modern, mal klassisch. Sich reibende Cluster korrespondieren mit schönen tonalen Momenten und Liebes-Chromatik. Auch Tschaikowskys „Nussknacker“ und das Weihnachtslied „O du fröhliche“ werden mit einbezogen. Genauso bunt wie die Inszenierung ist auch der Klangteppich. Bollon versteht es gut, mit Hilfe vielfältiger orchestraler Farben ganz spezifische Wirkungen zu erzielen, die dem Geschehen auf der Bühne hervorragend entsprechen. Seine Musik lebt von Reflektionen, die die Tiefe des Stoffes noch verstärken und in ihrer Gesamtheit recht eindringlich wirken. All diese Vorzüge der Partitur haben Bollon und das prächtig und hochkonzentriert aufspielende Philharmonische Orchester Freiburg subtil und differenziert vor den Ohren des Auditoriums ausgebreitet.
Christoph Waltle (Popcorn), Carina Schmieger (Peggy Blue), Kinderchor
Von den Sängern vermochte in erster Linie Sharon Carty zu begeistern, die nicht nur darstellerisch durch sehr gefühlvolles Spiel alle Facetten des Oscar zog, sondern diesem mit wunderbar vollem und rundem, bestens italienisch focussiertem und emotional eingefärbtem Mezzosopran auch gesanglich ein sehr berührendes Profil verlieh. Vom Schauspielerischen her war ihr Carina Schmieger als beherzt agierende, zierliche Peggy Blue durchaus ebenbürtig. Vokal blieben bei ihrem vor allem in der Höhe noch nicht völlig ausgereiften, flachen Sopran indes noch Wünsche offen. Hier wäre mehr stimmliche Anlehnung erforderlich gewesen. Das gilt in gleichem Maße für Christoph Waltles dünnstimmigen Popcorn. Da schnitt der Einstein von Kyoung-Eun Lee schon besser ab. Die Oma Rosa hat Bollon für Vertreter des von mir aufgrund seines unnatürlichen Fistelklangs nicht zusagenden Fachs des Countertenors geschrieben. Zumindest darstellerisch machte Xavier Sabata aus seiner Rolle ein wahres Kabinettstückchen. Sein fetziges, ausgelassenes Spiel und eine gute komödiantische Ader hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Bei Oscars Eltern vermochte die gut gestützt und sehr profund singende Sigrun Schell (Mutter) besser zu gefallen als der etwas halsig klingende, typisch deutsche Bariton von Wolfgang Newerla (Vater). Ein markant und ausdrucksstark intonierender Dr. Düsseldorf war Ks Neal Schwantes. Solide gaben Qiu Ying Du Dr. Winterfeld und die Putzfrau und Lucia Schreiber die Sandrine. Als Kindersoli waren Anna Viola Schmieger und Coura-Lale Tall zu hören. Das zweite Elternpaar gaben Yulianna Vaydner und Stefan Fiehn. Als Klinikclown erschien Prince Fischer auf der Bühne. Oscars Briefstimme war Josias Grube. Nachhaltig empfahlen sch der von Bernhard Moncado und Thomas Schmieger trefflich einstudierte Chor und Kinderchor. Insbesondere letzterem sei an dieser Stelle ein großes Lob ausgesprochen.
Fazit: Wieder einmal ein neues Werk des Musiktheaters, dessen Besuch durchaus zu empfehlen ist und dem es zu wünschen wäre, wenn es den Weg auch in die Spielpläne anderer Opernhäuser finden würde.
Ludwig Steinbach, 8. 1. 2014
Die Bilder stammen von Maurice Korbel