Der Generalintendant des Theaters Kiel, Daniel Karasek, schnappte mit diesem Auftragswerk, welches nun im Opernhaus Kiel zur Uraufführung kam, den gar nicht mal so weit entfernten Lübecker Nachbarn, ihre Geschichte quasi vor der Nase weg. Wer nicht will, der hat schon und in Kiel kam der ursprünglich etwa 1.100 Seiten umfassende Roman in einer 2 3/4-stündigen Opernadaption bei seiner Uraufführung ganz hervorragend an.
Oper nach Thomas Mann lautet die Werksbezeichnung. Das Werk des Komponisten Ludger Vollmer fokussiert sich dabei auf drei exemplarische Szenen der dritten und vierten Generation der Buddenbrooks. Der erste Akt zeigt eine opulente Feier der feinen Gesellschaft und nach der Pause werden die Zuschauer in zwei Beerdigungsszenen schließlich schonungslos mit dem Zerfall der Dynastie konfrontiert. Im Libretto von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel geht es konkret um folgenden Sachverhalt, den Dramaturg Ulrich Frey im Programmheft ausführlich zusammengefasst hat und dessen Worte ich hier weitestgehend unverändert zitiere:
Die Kaufmannsfamilie Buddenbrook hat schon lange den Getreidehandel durch das lukrative Geschäft mit Waffen ersetzt. In vierter Generation führt Senator Thomas Buddenbrook das Unternehmen. Dem erreichten Wohlstand hat er mit einem neuen Familiensitz ein Denkmal errichtet.
Seine Schwester Antonie Buddenbrook – genannt Tony – ist stolz auf das Erreichte. Zur Einweihung des neuen Hauses sind zahlreiche Gäste geladen. Darunter ist Leutnant René von Trotha, ein wohlweislich gepflegter Geschäftskontakt, der für die Heeresbeschaffung zuständig ist. Thomas‘ Frau Gerda ist von der Musikalität des jungen Soldaten fasziniert, der ein blendender Pianist ist. Thomas beargwöhnt das Interesse seiner Frau an Leutnant Trotha. Ebenso erscheinen die jüngste Schwester Clara Buddenbrook mit ihrem Mann Pastor Tiburtius, der eine ausgeprägte religiöse Strenge an den Tag legt. Besonders der sexuellen Unentschlossenheit seines androgynen Neffen Hanno Buddenbrook steht er sehr kritisch gegenüber. Hanno unterhält die Festgesellschaft mit selbst komponierten Rilke-Vertonungen, zur Begeisterung seiner Mutter Gerda und als Peinlichkeit für seinen unmusikalischen Vater Thomas. Schließlich kommen die Brüder Herrmann und Moritz Hagenström an, deren Familie eine lang gepflegte Erbfeindschaft mit den Buddenbrooks verbindet, die aber dennoch (oder gerade deshalb) eingeladen wurden.
Dementsprechend sind weder der im Neubau zur Schau gestellte Wohlstand noch alle Anwesenden vor den spöttischen Kommentaren der Hagenströms sicher. Bendix Grünlich etwa, ein angestrengter Bewerber um die Hand von Tony Buddenbrook, wird direkt auf seine zwielichtigen Geschäftspraktiken angesprochen. Auch der Bruder des Hausherrn, Christian Buddenbrook, wird als Buchhändler und »Künstlernatur« verspottet und mit seiner nicht standesgemäßen Liaison mit Aline Puvogel konfrontiert. Man begibt sich begeistert zum Buffet.
Thomas argwöhnt in der Zufriedenheit der Hagenströms einen Angriff auf ihn und seine Firma und vermutet einen Plan dahinter. Er hadert damit, dass die Zukunft seiner Familie und der Firma auf den Schultern seines allein künstlerisch interessierten Sohnes Hanno liegt, der sich erneut mit einer – noch dazu erotisch sehr eindeutigen – Rilke-Vertonung produziert. Die Gäste verlassen allmählich das Fest. Bendix Grünlich holt sich bei einer privaten Unterhaltung mit Pastor Tiburtius die Absicherung, dass eine rein finanziell motivierte Eheschließung trotzdem den Segen der Kirche erhält. Als Tony von seinen sie betreffenden Heiratsplänen erfährt, opponiert sie stark dagegen. Thomas zweifelt unter dem Druck der Familientradition daran, ein würdiger Stammhalter zu sein.
Ebenso protestiert Tony gegen die ihr aufgezwungene Rolle als fügsame Magd, der sie sich laut Familie unterzuordnen hat. Doch letztendlich fügt sie sich in ihr Schicksal.
Erneut kommt die Familie aufgrund eines – weniger freudigen – Ereignisses zusammen: Clara Buddenbrook ist verstorben. Im neuen Stammhaus begeht man ihre Totenwache. Hanno Buddenbrook singt seiner Tante mit Rilkes Abschied ein letztes Ständchen. Der Witwer Pastor Tiburtius bringt offen seine Abneigung gegenüber Hannos geschlechtlicher Ambivalenz zum Ausdruck. Es kommt zur direkten, unversöhnlichen Konfrontation. Gerda Buddenbrook ist empört über die unverblümte Kritik an ihrem Sohn und verweist Tiburtius des Hauses. Christian entlarvt die finanziellen Interessen von Tiburtius an Claras Erbe, das der Familie und somit auch der Firma entzogen wird Er selbst möchte wieder in das Familienunternehmen einsteigen, nachdem sein Buchgeschäft sich als unrentabel erwiesen hat. Thomas Buddenbrook lehnt das ab, solange Christian seine unstatthafte Verbindung zu Aline Puvogel nicht aufgibt. Christian ist überzeugt, der Vater von Alines nächstem Kind zu sein. Er will ihre Verbindung legitimieren. Dabei stellt er Thomas‘ Zeugungsfähigkeit in Bezug auf Hannos gebrechliche Konstitution in Frage. Es kommt zur handfesten Auseinandersetzung der beiden Brüder, die Tony Buddenbrook beendet. Sie berichtet, dass sie sich von Bendix Gründlich scheiden lassen wird. Er hat seine desolate finanzielle Lage beschönigt, um an ihre Mitgift zu kommen. Als Grünlich sie um Vergebung anfleht, zeigt sich die gesamte Familie dem Bankrotteur gegenüber unversöhnlich. Da offenbart Grünlich, dass der finanzielle Ruin der Familie ebenso bevorsteht, nachdem ein riskantes Rohstoffgeschäft aufgrund von politischen Umwälzungen scheitern wird. Grünlich selbst wird durch Aktienleerverkäufe davon sogar noch profitieren. Thomas gesteht Gerda, dass die Hagenströms ihn dabei hintergangen haben. Er sieht sich plötzlich völlig isoliert. Geschockt bricht er zusammen.
Kurze Zeit nach Thomas‘ Tod ist auch sein Sohn Hanno verstorben. Seine Mutter Gerda hat sich entschlossen, das Haus an die Hagenströms zu verkaufen und die Stadt zu verlassen. Für die Hagenströms ist der Familiensitz der alten Buddenbrooks nur ein Spekulationsobjekt. Sie werden das Haus bald verkaufen.
Ende des Zitats.
Viele Erzählstränge der Oper sind in Spuren bereits bei Thomas Mann angelegt, aber in dieser Bearbeitung deutlich herausgearbeitet und in manchem Detail auch verändert worden. Am auffälligsten ist dabei vielleicht die Tatsache, dass die Buddenbrooks sich im Original mit Getreidehandel befassten, aber in der Kieler Version im Waffengeschäft aktiv sind.
Dass dieses Werk nicht als langweiliger Historienschinken auf die Bühne gekommen ist, ist Ludger Vollmers Anspruch, in seinen Werken die Parallelen zur heutigen Zeit aufzuzeigen, zu verdanken. Das mag nicht jedem Besucher gefallen – nach der Pause blieben wenige Sitze leer und beim Schlussapplaus vernehme ich einen einsamen Buh-Rufer hinter mir – , aber gibt dem Stück durch seine Aktualität eine beklemmende Relevanz. Das 19. und 21. Jahrhundert sind inhaltlich ineinander verwoben und auch musikalisch zitiert der Komponist in seiner opulenten melodiösen Tonsprache immer wieder vertraute Melodien aus vergangenen Zeiten. Marschmusik, Tango, Bigband-Sound, eine Kirchenchoral und schließlich gar eine ganze Händel-Arie, die er um eine neu komponierte Chorstimme erweitert, sind darunter. Dabei werden schöne Melodien auch schon mal von Peitschenhieb-artigen Geräuschen abgelöst, die im Publikum regelrechte Schreckmomente auslösen.
Die aktuellen Themen, wie Krieg und Umweltschutz, die bewusst thematisiert werden, spiegeln sich in den weitestgehend heutigen Kostümen (Claudia Spielmann) wieder. Diese verkörpern den gehobenen Lebensstil der Upper-Class eindrucksvoll wider. Die Männer tagen Frack – eine Reminiszenz an die Historie. Die Bühne (Lars Peter) stellt einen repräsentativen großzügig gestalteten Raum in der Buddenbrook Villa dar. Große Portraits der bereits verstorbenen Generationen hängen an den Seitenwänden und im Hintergrund werden dezente Videoprojektionen (Frank Böttcher) eingeblendet. Das Dach ist nach oben hin offen und ist vielleicht schon von Anfang an ein Indiz dafür, dass die schöne heile Welt, in der man sich wähnt, fragil ist. Die Regie von Daniel Karasek hilft dabei, die trotz oder gerade wegen ihrer Kompaktheit durchaus fordernde Handlung klar zu vermitteln. Handys und Laptop auf der Bühne verstören dabei nicht, denn im Text kommen auch Begriffe wie SUV und E-Mobile vor und Hanno wechsle angeblich täglich sein Geschlecht. Den Chor lässt Karasek meist als kommentierende Instanz an der Rampe oder hinter der Szene auftreten. Im Zusammenspiel aus initialem Ideengeber des Werks und ausführendem Regisseur obliegt dem Kieler Generalintendanten an diesem Abend gleich doppelte Herausforderungen, die er souverän meistert. Neben den kommentierenden Auftritten des Opernchors der Stadt Kiel und des Kinder und Jugendchors der Akademien am Theater Kiel treten die Choristen in der Beerdigungsszene im dritten Akt als Trauergäste mit einem stimmgewaltigen Requiem in Erscheinung. In der Einstudierung von Gerald Krammer gelingt ihnen die anspruchsvolle musikalische Umsetzung der Chorpartien souverän und harmonisch. Dem groß besetzten Philharmonischen Orchester der Stadt Kiel wird stilistisch an diesem Abend so einiges abverlangt. Höchst konzentriert gelingt den Musikern dabei eine differenzierte Interpretation der fordernden Partitur, die oft einen episch breiten Klang erfordert. Generalmusikdirektor Benjamin Reiners hat seine Musiker hervorragend vorbereitet und hält den gesamten Abend über bei oft unerwartet erscheinenden Rythmuswechseln eine knisternde Spannung aufrecht, ohne die Sänger zu übertönen. Diese haben das seltene Glück, dass sie selbst im Laufe des Probenprozesses in gewissem Maße auf die Komposition Einfluss nehmen konnten und ihnen die Rollen quasi auf den Leib geschrieben wurden. Ks. Jörg Sabrowski dominiert als Senator Thomas Buddenbrook auch stimmlich mit seinem kernigen Bassbariton das Geschehen und hinterlässt einen starken Eindruck. Xenia Cumento als Tony Buddenbrook steht in der Oper deutlich stärker im Vordergrund als man vermuten würde. Sie meistert ihre Rolle mit einer intensiven Bühnenpräsenz und ihrem klaren Koloratursopran, den sie zum Ende des ersten Aktes mit ihrer furiosen von Händel inspirierten Arie zu einem der vokalen Höhepunkte des Abends einsetzen kann. Damit setzt sie vor der Pause ein klares Ausrufezeichen. Matteo Maria Ferretti gestaltet Pastor Sievert Tiburtius mit seinem sonoren schwarzen Bass als heuchlerischen Vertreter Gottes, der einerseits den Waffenhandel rechtfertigt und Hanno in seiner Identitätskrise wenig empathisch gegenübersteht. Die größte gesangliche Überraschung des Abends hat der Countertenor Elmar Hauser als Hanno Buddenbrook zu bieten. Scheinbar ohne jegliche Anstrengung gelingen ihm engelsgleiche Töne, die den einstigen Superstar-Charakter eines Farinelli nachvollziehbar werden lassen. Ein humoristisches Kabinettstück liefern Konrad Furian als Moritz Hagenström und Stefan Sevenich als Herrmann Hagenström ab. Michael Müller-Kasztelan gibt mit elegantem Tenor den ebenso elegant gespielten Christian Budenbrook. Tatia Jibladze als Gerda Buddenbrook, Clara Fréjacques als Clara Tiburtius und Gabriel Wernick als Leutnant von Trotha, sowie Oleksandr Kharlamov komplettieren das vorzügliche Ensemble.
Von meinem Platz aus hatte ich das große Vergnügen, nebenbei auch immer wieder den schräg vor mir sitzenden Komponisten bei der Geburt seines musikalischen Babies beobachten zu können. Vollmer durchlebte sichtbar jeden Ton mit seinem ganzen Körper und hatte offenbar große Freude an der Aufführung seines Werks.
So realisiert wie an diesem Abend in Kiel berührt zeitgenössisches Musiktheater die Menschen und in dieser stimmigen Umsetzung hat Oper unbestritten eine Relevanz in unserer modernen Welt.
Marc Rohde, 6. Mai 2024
Die Buddenbrooks
Oper von Ludger Vollmer
Theater Kiel
Uraufführung am 4. Mai 2024
Regie: Daniel Karasek
Musikalische Leitung: Benjamin Reiners
Philharmonisches Orchester Kiel