in deutscher EA am Theater Osnabrück
Premiere: 15.06.2019
Schatz erfolgreich gehoben
Lieber Opernfreund-Freund,
bereits in den vergangenen Jahren hat sich das Theater Osnabrück um die Aufführung von Opernraritäten verdient gemacht und widmet sich in dieser Spielzeit der Oper Guercœur des französischen Komponisten Albéric Magnard, die es nicht nur in deutscher Erstaufführung, sondern auch erstmals seit ihrer unter abenteuerlichen Umständen zustande gekommenen Uraufführung 1931 szenisch zeigt. Und – soviel darf ich vorwegschicken – die Ausgrabung des verschüttet gegangenen Werkes ist auf ganzer Linie gelungen.
„Was von wem?“ mögen Sie sich beim Lesen der Überschrift gefragt haben und deshalb will ich Ihnen gerne etwas über Komponist und Werk erzählen, ehe ich von der gestrigen Premiere berichte. Albéric Magnard, 1865 in Paris geboren, hatte bereits das Studium der Rechtswissenschaften aufgenommen, ehe er sich nach einer Reise nach Bayreuth, bei der er eine Vorstellung von Tristan und Isolde besucht, am Musikkonservatorium einschriebt und bei Jules Massenet und Vincent d’Indy studiert. Er schreibt zwei Sinfonien und eine erste Oper Yolande, ehe er 1901, inspiriert von der Dreyfus-Affaire, seine Hymne á la Justice op. 14 schreibt. 1904 verlässt der eigensinnige Komponist Paris und zieht aufs Land, distanziert sich aber nicht nur räumlich vom dortigen Musikleben, sondern arbeitet fortan auch nicht mehr mit einem Verlag zusammen, lässt seine Werke selbst von einer Druckerei drucken. Dieser Umstand wird ihm und seinem Werk während des Ersten Weltkriegs zum Verhängnis, als er auf einen deutschen Spähtrupp feuert, der daraufhin Magnards Haus in Flammen setzt – und mit ihm seine unverlegten Kompositionen. Ein Großteil seines Œuvres wird wie sein Schöpfer ein Opfer des Feuers – darunter auch der erste und der dritte Akt seiner Oper Guercœur. Sein lebenslanger Freund, der Komponist und Dirigent Guy Ropartz, hatte den dritten Akt als Teiluraufführung 1908 geleitet, 1910 war der erste Akt im Rahmen der Pariser Concerts Colonne zur Aufführung gelangt. So konnte die fehlende Musik von Ropartz rekonstruiert und posthum 1931 in Paris zur szenischen Uraufführung gebracht werden, ehe das Werk – abgesehen von zwei (Teil-)Einspielungen 1958 und 1986 – in der Versenkung verschwand, bis das Theater Osnabrück es nun dem Vergessen entreißt.
So absonderlich wie die Geschichte des Werkes und seines Komponisten mutet auch die Handlung der Oper an. Der Ritter Guercœur ist im Jenseits angelangt, in dem die Allegorien Bonté (Güte), Beauté (Schönheit) und Souffrance (Leiden) unter der Führung von Vérité (Wahrheit) das Regiment führen. Guercœur fleht darum, auf die Erde zu seiner Frau Giselle und seinem Volk, das er aus der Diktatur in die Freiheit geführt hatte, zurückkehren zu dürfen. Die übrigen Allegorien bewegen Vérité dazu, dem Ritter seinen Körper zurück zu geben, weil der in seinem Leben bisher kein Leid kennen gelernt hatte. Zurück auf der Erde erkennt Guercœur, dass sich seine Frau trotz ihres Treueschwurs seinem ehemaligen Schüler Heurtal zugewandt hat. Der wiederum will sich vom Volk zum Alleinherrscher ausrufen lassen, die Unterdrückung droht wieder einzukehren. Das Volk hält Guercœur, der an es appelliert, für einen Betrüger, und erschlägt ihn, ehe es Heurtal als neuen Herrscher proklamiert. Zurück im Jenseits eröffnet Vérité in einem großen Monolog die Vision von einer besseren Welt ohne Rassen- und Nationengrenzen, ohne Armut und Schmerz, ehe Guercœur von den übrigen Seelen des Jenseits‘ gepriesen wird.
Das Regieteam um den jungen Dirk Schmeding präsentiert das Jenseits des ersten Aktes als düsteren Ort, Guercœur und die anderen Seelen sind buchstäblich entleibt, scheinen auf der pechschwarzen Bühne von Martina Segna ebenso umher zu schweben wie die an Heiligenscheine erinnernde elliptische Beleuchtung. Die gelungenen Videoeinspielungen von Roman Kuskowski verstärken den mystisch-sphärischen Eindruck, Frank Lichtenberg hat die Allegorien in fließende schwarze Roben gesteckt, augenfällige Details und ihr jeweiliges Makeup drücken ihr individuelles Wesen aus. Das ist ebenso stimmig und durchdacht wie der Einfall, den Beginn des zweiten Aktes in und um ein Bett auf einem Podest im Hier und Heute stattfinden zu lassen. Schmeding erweist sich als genauer Beobachter, ehe er mir in der zweiten Hälfte des Erden-Aktes ein wenig zu sehr in die billige Ecke der Regietrickkiste greift, den Volksaufstand mit dann eher überflüssigem Videomaterial untermalen und den Zuschauerraum grob bespielen lässt. Auch im Schlussakt wird allerhand Trockeneis bemüht und doch findet Schmeding am Ende wieder stimmigere Bilder, Sanitäter versuchen vergeblich, Guercœur wiederzubeleben, ehe er eingeäschert wird und es zu Vérités nicht enden wollenden Hymnus an Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe zur Apotheose kommt. Und dennoch hätte ich mir hier eher eine deutlichere Klammer zum Himmel des ersten Aktes gewünscht.
Musikalisch kommt dieses Werk wie eine Art französische Wagner daher, Magnard suhlt sich in den reichen, höchst romantischen Melodien, erinnert in seiner Orchestrierung an Chausson, in seinen Harmonien hört man Anklänge an Debussy und Dukas. Das alles scheint aus dem Taktstock von GMD Andreas Hotz förmlich ins Orchester hinein zu fließen, so sehr strömen die wunderbaren Klänge der Komposition aus dem Graben – nicht nur nur während der an kleine Sinfonien erinnernden Vorspiele, sondern auch während der Begleitung der arienlosen und dabei nicht weniger eindringlichen Gesangsstimmen. Der Chor ist leider von der Regie über weite Teile sehr im Off platziert, so dass die harmonischen Wendungen, die Magnard gerade in den Chorpart gewebt hat, und die große Strahlkraft, mit der die Damen und Herren diesen unter Leitung von Sierd Quarré zum Leben erwecken, ein wenig an Effekt verlieren.
Präsent und kraftvoll gestaltet Rhys Jenkins die Titelfigur, singt nuanciert, leidet und kämpft so packend, dass es einen noch in der letzten Reihe rührt. Susann Vent-Wunderlich legt die Giselle als leidenschaftlich-forderndes Vollweib an, gestaltet aber ebenso farbenreich auch die reuevoll-zögernden Facetten ihrer Figur. Gastsänger Costa Latsos präsentiert als Heurtal strahlende Höhe und glänzt darüber hinaus mit enormer Bühnenpräsenz. Lina Lius klarer Sopran lässt sie die Vérité ganz wunderbar interpretieren, während Katarina Morfa mit Wärme verströmendem Mezzo als Bonté und Erika Simons mit funkelnd-reinem Sopran als Beauté überzeugen. Daniel Wagner formt den Schatten eines Poeten alles anderen als überschattet, sondern voller Verve, während die Souffrance von Nana Dzidziguri nur als anbetungswürdig beschrieben werden kann, so trifft einen die kehlige Tiefe der Georgierin bis ins Mark.
Das Publikum ist zu Recht begeistert, feiert anhaltend alle Beteiligten. Und auch ich kann Ihnen nicht erklären, warum dieses wunderbare Werk 88 Jahre in Archiven schlummern musste. Respekt gebührt dem Theater für seinen Mut und höchste Anerkennung dem Produktionsteam, dem hervorragenden Ensemble und den engagierten Gästen, die diesen Schatz ans Licht gezerrt haben. Der Sinn einer Ausgrabung liegt auch in einer vollständigen Präsentation des Werkes – diesem Anspruch stellt man sich in Osnabrück in vorbildlicher Weise. Dennoch empfehlen sich für hoffentlich folgende Produktionen ein paar Striche im Schlussakt, um dem ein wenig die Längen zu nehmen – mir war das dann doch eine Prise zu viel Ethik-Unterricht. Noch fünfmal haben Sie, lieber Opernfreund-Freund, jetzt aber noch die Gelegenheit, diese Ausgrabung ungekürzt zu erleben. Nutzen Sie mindestens eine! Dabei können Sie sich dann auch die informative Ausstellung ansehen, die sich derzeit im Theater Osnabrück mit diesem Werk und seinem Komponisten beschäftigt.
Ihr Jochen Rüth 16.06.2019
Die Fotos stammen von Jörg Landsberg.