An der Fassade des Tyl-Theaters ist auch sein Porträt zu sehen. Für das frühe 20. Jahrhundert war er also offensichtlich der repräsentative tschechische Vertreter der Gattung Oper. Ist er es zurecht, obwohl er auch auf den Bühnen seines Heimatlandes, ganz zu schweigen von den nichttschechischen Ländern, mit seinen gesamten acht Opern nur selten vertreten ist? Wer gerade die Smetana-Trilogie in Pilsen genießen konnte – viele Besucher machten sich das Vergnügen, alle drei Abende zu erwerben–, wird es bestätigen können: Smetana bleibt der überragende tschechische Opernkomponist seiner Epoche.
Dafür steht nicht zuletzt die Vielfältigkeit seines Bühnenwerks ein. Nach der monumentalen Festoper Libuše komponierte Smetana eine Komische Oper, die im Salon eines böhmischen Landguts spielt und mit einer kleinen Besetzung und einer lockeren Tonsprache versehen ist, die sich vom hohen Pathos der Libuše fundamental unterscheidet. Wer allein Die verkaufte Braut kennt, die der Komponist selbst nur wenig schätzte, wird kaum ahnen können, dass sich Smetana auch auf die Komposition eines französischen Konversationsstücks verstand – freilich eines Konversationsstücks mit echt smetanesken, also lyrisch beseelten Tönen. Dvě vdovy, Zwei Witwen, entstand in der kurzen Zeit zwischen Juli 1873 und Januar 1874, wobei immer noch verwundert, dass der Komponist die Oper sofort als Partitur niederschrieb. Uraufgeführt wurde die Oper 1874 im Prager Interimstheater, wo sie zwar erfolgreich war, aber sogleich wieder in der Versenkung verschwand. Für die zweite, heute geläufige Fassung hat Smetana 1877 das Werk verändert, indem er aus den Dialogen Rezitative machte und einige Stücke für das zweite Liebespaar, das Finale des 1. Akts, das Lied des Helden, um den sich die Witwen drehen, und ein Terzett hinzukomponierte. So kam die Oper ziemlich genau zwei Jahre nach der Uraufführung im selben Haus zur zweiten und schließlich nachhaltigen Uraufführung. Sie war so erfolgreich, dass sie als erste Smetana-Oper in einem deutschen Haus, nämlich in Hamburg, erstaufgeführt wurden. Damals betonte er den Zusammenhang zwischen Stil und Sujet: „Zwei Witwen ist schon die fünfte Oper, die ich für unser tschechisches Theater mit Bedacht auf einen solchen Text und in einem solchen musikalischen Stil geschrieben habe, weil ich wollte, dass die Anmut der Handlung mit der Innigkeit und edlen Linie der Musik ein einziges Ganzes bilden. Es war dies ein Versuch, den ich erst unternahm, als ich bereits […] den Beweis erbracht hatte, dass ich mich auch in anderen Opernstilen auskenne, ein Versuch, auch einmal eine Oper im distinguierten Salonstil zu schreiben.“
Smetana hat sich nicht getäuscht. Zwei Witwen wurde ein höchst unterhaltsames, spritziges Meisterwerk: nicht im Geiste Offenbachs, den Smetana verabscheute, sondern in seinem Geist ein wenig auch in der Nachfolge Mozarts. Dabei ist die Geschichte denkbar simpel: Anežka, Cousine der lustigen Witwe Karolina, trauert nach zwei Jahren noch um ihren Mann, als der Förster Mumlal verkündet, dass sich seit einigen Tagen ein Wilderer in den Wäldern herumtreibe. Der ist kein anderer als Ladislav, der Anežka schon vor ihrer Ehe umworben hat. Karolina hilft dem Glück auf die Sprünge, indem sie Ladislav vom Förster festnehmen lässt, und Ladislav erhält sinnigerweise einen Tag Hausarrest, den er dankbar annimmt. Nach einer Eifersucht auslösenden Intrige kommen schließlich die Richtigen zusammen. Anežka öffnet sich endlich sich und ihren Gefühlen für den in Wahrheit Geliebten. Vier Hauptrollen: Zwei Soprane, ein Tenor und ein Bariton, dann noch ein dramaturgisch entbehrliches, aber reizvoll-kontrastives (und musikalisch herrliches), buffomäßig angehauchtes junges Liebespaar, natürlich Tenor und Sopran, schließlich der Chor: das ist die übersichtliche wie ökonomische Besetzung. Honolka nannte das Werk eine „aristokratische Musikkomödie“. Es ist dies „Smetanas eleganteste Partitur, der opéra comique im Genre verwandt, aber durch sehr persönliche Zutaten (eine saftige Polka, ein eingestreutes Melodram im zweiten Akt, die gefühlspathetische Szene und Arie der Agnes) unverwechselbar in Smetanas Landschaft entrückt.“ Das Smetaneske, das Persönliche aber erwächst jedoch nicht allein aus der Souveränität und dem melodischen Einfallsreichtum, mit dem der Komponist die komischen Szenen und die Figur des Försters, der einzigen Type, zeichnet, vielleicht nicht einmal in den tänzerischen, polkabasierten Rhythmen, die Smetana auch dem ländlichen Chor schenkt. Es ist die Kombination aus Humor und Leidenschaft, einer sanften Traurigkeit, die in den Soli und dem Duett des Paares aufscheint, das am Ende glücklich vereinigt dastehen soll.
Die Eifersucht auslösende Intrige: In der Inszenierung des Národni divadlo moravskosleské in Ostrava ist sie kein komödiantisches, sondern ein trauriges Moment. Der Regisseur Rocc erkannte im Stoff, den man als heitere, etwas oberflächliche Liebesgeschichte interpretieren könnte, einen wesentlich tieferen Gehalt – nicht gegen, sondern mit Smetanas Musik. Denn Smetana wäre nicht Smetana gewesen, hätte er das quirlige Buffo-Geplauder nicht mit jener noch jedes Mal tief bewegenden Emphase versehen, wie sie ausnahmslos jede Smetana-Oper besitzt. Es stimmt ja: In jeder guten Komödie ist eine Tragödie verborgen. Die Aufführung entlässt uns also nicht mit einem vorhersehbaren Happy End, sondern dem Wissen, dass man nicht mit den Herzen spielen sollte: weder mit dem eigenen noch mit anderen. Smetana wusste das schon, als er die Verkaufte Braut komponierte. In Pilsen sehen wir also zunächst auf einen roten Vorhang, hinter dem es sich deutlich regt. Die beiden eleganten Frauen, die eine in Schwarz, die andere in Rot (Belinda Radulovič hat den Beiden schöne Kostüme entworfen) und witzigerweise den Klavierauszug der Lustigen Witwe in Händen haltend, treten vor, es wird buchstäblich Theater gespielt, man tritt auch durch den Zuschauerraum auf. Man sitzt noch im zweiten Akt an beleuchteten Garderobentischen, die Komödie geht weiter, nun schlägt sie in eine Verwirrung der Gefühle um, die auch die „lustige“ der beiden Cousinen erfasst. Die aber ist gar nicht so lustig, wenn sie ihren Witwen-Schmerz – den Schmerz einer männerlosen Frau– durch die manische Aufzählung ihrer Arbeiten so wegsäuft wie den Weißwein. Ohne auch nur ein Wort an Text und Musik ändern zu müssen, hat man in Ostrava erfasst, was sich im Inneren der scheinbar so gut aufgelegten Frau abspielt, die am Ende nicht mit dem urplötzlich auftretenden wie attraktiven Mann ein Spiel für ihre Schwester, sondern für sich selbst spielt. Die „missverständliche“ Situation, Ladislavs Kniefall vor Anežka, ist so missverständlich denn doch nicht, die Lösung ist endgültig – denn der Mann verschwindet und lässt die beiden Frauen allein zurück, bevor der Chor seine ländlichen Vergnügen schwungvoll besingt, als gäbe es kein Morgen. Der Rest aber ist keine Tragödie, sondern einfach nur zwei Frauen, die wieder für sich sind, nachdem sie sich zunächst wie echte „Kolleginnen“ eifersüchtig beharkten und endlich einsehen, dass ein Leben mit dem Piccolo in der Hand wesentlich sinnvoller ist, als verflossenen Liebhabern und Ehemännern nachzutrauern. Man macht eben in Ostrava aus der Tragikomödie keine Tragödie – aber man merkt, dass sie, nicht zuletzt dank Smetanas Musik, immer schon da war: nicht allein in jenem Moment, in dem die schwarze Schwester am Sarg ihres Mannes – da kommt die kleine Drehbühne in Einsatz – ihren Schwur bereut, ihm über den Tod hinaus treu zu sein. Wie nennt man das? Sehr rührend.
Der musikalische und musikdramatische Wert der Zwei Witwen erwächst also auch aus den hinreißend melancholischen Passagen, die die Komödie durchkreuzen. Hier ein Staccato-Quartett, dort Ladislavs volksliedhaftes Kdy zavitá máj (Wunderschöner Mai), hier das Buffo-Geplapper, dort die tief-innige Arie. Smetanas Musiksprache führt das alles im Stil einer so lustigen wie empfindsamen Konversations- und Arien-Komödie zusammen. Davor verblassen alle möglichen Kritikpunkte, die man dem angeblich nicht besonders gelungenen, weil sprachschwachen Textbuch Emanuel František Züngels entgegengebracht hat. Es wundert einen, dass sich das Ausland gerade dieses wirkungsvollen Stücks so selten angenommen hat. Freilich muss es bis in die „Nebenrollen“ adäquat besetzt werden. In Ostrava hat man wieder ein glänzendes, im besten Sinne idiomatisches Ensemble zusammengesetzt: Lada Bočková ist die komische wie traurige Karolina, Veronika Rovná die Anežka, beider Soprane sind gleichsam „in der Rolle“ drin, indem sie mit den Stimmen spielen und die Partien mit Verve mit souveräner und vokaler, mit kraftvoller und ausgeglichen klingender Gestaltung ausfüllen. Chapeau! Den Ladislav Podhajský spielt Martin Šrejma; in Prag sah ich ihn vor einigen Jahren als Don Ottavio, letztens in Pilsen als Jares in der Teufelswand, nun spielt er, sozusagen in Nachfolge dieser zwei Rollen und Vokalprofile, einen wohltönenden und, wie alle, herzhaft, doch nie übertreibenden mittelalten, unglücklich Liebenden ersten Ranges, der auch in seiner großen, von der linken Orchesterloge aus gesungenen Mai-Arie gleich zu Beginn des zweiten Akts zeigen kann, was das heißt: intelligenter Schöngesang. Mumlal heißt die vierte Hauptrolle, wieder sehen wir Martin Gurbaľ auf der Bühne, der nicht nur Alte (in den Brandenburgern in Böhmen), sondern mit seiner vis comica auch komische Alte singen und spielen kann: knorrig, aber wohltuend, deklamatorisch fest, aber nicht hölzern. Die beiden Jungen werden schließlich von Karolína Levková und Václav Čížek gebracht: er bei seinem Auftritt im Parkett als im kleinen Haus ein ansprechend sonorer, doch leider ein wenig zu lauter Liebhaber (ein Wermutstropfen, mehr nicht), sie als bezaubernd aussingende, vitale junge Frau: ein Sopran-Glück.
Schließlich? Wieder darf man den diesmal etwas verkleinerten Chor des Mährischen Theaters unter seinem Leiter Jurij Galatenko bei der Arbeit bewundern. Diesmal stehen sie als festlich, doch nicht überkandidelt gewandete Leute von heute auf der Bühne, um zuletzt eine Hochzeit, zwischendurch das Leben und die Liebe zu feiern und zu besingen, um die Oper in einem hinreißend wirbeligen Finale zu beenden, in das sie das Orchester des Národni divadlo moravskosleské unter der Leitung Marek Šedivýs so schwungvoll wie kontrolliert hineinführt. Wie gesagt: Sie kennen und können ihren Smetana – einen Smetana, der, auch diese brillante wie kurzweilige Dernièren-Aufführung machte es klar, der ganzen Welt gehören müsste.
Es gibt ja grundsätzlich zwei Arten von Opernkomponisten: Es gibt die One-Work-Composer, die ein einziges, in jedem Sinne vollendetes Werk vorgelegt haben, das seit der Premiere für so gut wie alle oder zumindest für sehr viele Zuhörer auf dem ganzen Opernplaneten erstrangig ist: der Fall Bizet, Gounod, Mussorgsky, Berlioz, Saint-Saëns. Dann gibt es jene Schöpfer, die irgendwann ein Niveau erreicht haben, das sie nicht mehr unterschreiten können, so dass sie ein hochinspiriertes und unverwechselbares, also geniales Opus nach dem anderen vorlegen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren das Wagner, Verdi – und Smetana. Die Zwei Witwen gehören in diese seltene Reihe der Werke der absoluten Meister, die sich mit jedem Stück mehr oder weniger neu erfanden, denn auch Zwei Witwen hatte in Smetanas Werk keine Vor- und Nachläufer.
Dass man die Gastspiel-Trilogie mit den frühen, noch ein wenig (die Betonung liegt auf „wenig“) unausgereiften Brandenburgern begann, mit dem unvergleichlichen Geheimnis fortsetzte und den hinreißenden Zwei Witwen beendete, die wiederum einen langen wie heftigen Applaus eines glücklichen Publikums ernteten, hatte schon seinen guten Sinn – so, wie an der Fassade des Tyl-Theaters vor über einem Jahrhundert auch sein Porträt angebracht wurde.
PS: Glücklicherweise wurde die Produktion aufgezeichnet: https://www.youtube.com/watch?v=V2Uoa6smSF4
Frank Piontek, 7. Januar 2025
Zwei Witwen
Bedřich Smetana
J.K. Tyl-Theater, Pilsen
Gastspiel des Národni divadlo moravskosleské, Ostrava
Besuchte Vorstellung: 6. Januar 2025
Premiere am 9. Juni 2022
Inszenierung: Rocc
Musikalische Leitung: Marek Šedivý
Orchester des Národni divadlo moravskosleské