St. Gallen: „Lili Elbe“, Tobias Picker

Musiktheater mit Relevanz

Es kommt nicht allzu oft vor, dass man am Ende der Uraufführung einer zeitgenössischen Oper lange Momente in betroffener Stille verharrt, bevor man in den einhelligen Jubel des Premierenpublikums einstimmt (deutlich mehr als 10 Minuten), das sich beim Erscheinen des Komponisten von den Plätzen erhebt. Und da spürt man, dass man ein Werk erlebt hat, das von bedeutender gesellschaftspolitischer Relevanz ist. Man hat Anteil genommen am Schicksal eines Menschen, der sich von Beginn weg im eigenen Körper nicht zu Hause gefühlt hat (pantomimisches Vorspiel mit der Tanzveranstaltung, wo sich der junge Einar einen Schuh anzieht, der eigentlich für die Damen vorgesehen war – und darauf von der Gesellschaft gnadenlos verspottet wird), der später mit der bisexuellen Malerin Gerda auf eine verständnisvolle Partnerin trifft, sie heiratet, in Paris den Mut findet, zu seiner weiblichen Identität zu stehen, den Arzt Warnekros trifft, der eine erste geschlechtsangleichende Operation vornimmt, daraufhin vom dänischen König als Frau anerkannt wird, verbunden mit der Annullation der Ehe mit Gerda.

(c) Ludwig Olah

Während Einar, der sich nun definitiv Lili Elbe nennt, in den Pariser Künstlerkreisen Akzeptanz erfährt, ist es im familiären Umfeld weitaus schwieriger, diese zu erlangen. Sowohl die alte Mutter als auch die resolute Schwester lehnen die neue Identität Einars (Lilis) rundweg ab. Ganz tragisch wird es dann, wenn Lili sich den Kinderwunsch mit einer Gebärmuttertransplantation erfüllen will. Dr. Warnekros denkt mehr an den potentiellen Nobelpreis als an die Gesundheit seiner Patientin, geschweige denn an das Schicksal der Spenderin, die aufgrund ihrer niederen Herkunft und ihres Lebenswandels wie ein frei verfügbares Organ-Ersatzteillager behandelt wird. Am Ende geht alles schief. Gerade der zweite Teil der Oper berührt ungemein, die Szene bei der Mutter, das Aufeinandertreffen von Spenderin und Empfängerin der Gebärmutter und der Tod Lilis gehen wahrlich unter die Haut – das ist zutiefst ergreifendes, relevantes Musiktheater vom Allerfeinsten.

Eklektizismus der Musik

Tobias Picker hat eine packende, dichte und eindringliche Partitur geschaffen, für jede der (kurzen) Szenen, die vom Librettisten Aryeh Lev Stollman so klug konzipiert worden waren, treffende musikalische Umsetzungen und situativ perfekt passende Stimmungen komponiert. Er bedient sich dabei diverser musikalischer Mittel und instrumentaler Farben, webt jazzige Rhythmen, Foxtrott und Walzer in die Gesellschaftsszenen, setzt das wunderschön spielende Metanola-Streichquartett auf die Bühne, angeführt vom mit traumhafter Reinheit spielenden Raul Campos-Calzada. An wenigen Stellen „zitiert“ er zeitgenössische Musik der 20er Jahre, z.B. bei der Opernaufführung von ORPHEUS UND EURYDIKE, der Gerda und Einar beiwohnen, wo die Musiksprache an Kreneks gleichnamige Oper erinnert und Einar dann kommentiert: „I like Gluck better“. Ansonsten bietet die Handlung selbstredend wenig Platz für Witz oder Humor. Auf dem Ball bei der dänischen Gräfin in Paris, wo die Stimmung nach der Selbsterkenntnis Einars (Lilis) bei der Begegnung mit dem Parfumeur Claud LeJeune ins Psychedelische kippt, erinnert der sirenenhafte Gesang des Chors an Schrekers DIE GEZEICHNETEN.

Zu Beginn des dritten Aktes, der in Dresden nach der ersten geschlechtsangleichenden Operation spielt, erklingen atonale Klänge, ansonsten sucht der Komponist immer tonale Zentren, wiederholt musikalische Phrasen im Orchester oder in Chorpassagen mit großer stimmlicher Präsenz und atmosphärischer vokaler Dichte: der Chor des Theaters St. Gallen, einstudiert von Franz Obermair), schafft so Wiedererkennbarkeit und ein Haften von Melodien im Ohr. Dies alles führt zu einer leichten und nicht verstörenden Zugänglichkeit zu seiner Musik, die auf diversen Säulen der Musikgeschichte fußt, von liturgischen Klängen über die Spätromantik Schrekers und Korngolds zu Bernstein und Britten. Obwohl die Oper viele Dialoge und Text beinhaltet, weicht er in keinem Moment auf Sprechgesang oder rezitativisches Parlando aus, seine Gesangslinien bleiben stets der Melodie verpflichtet, Ariosi münden in große Szenen mit wunderbaren Aufschwüngen und in dramatische Arien voller Selbsterkenntnis. Gerade die psychedelisch angehauchte Party bei der dänischen Gräfin ist stimmungsvollstes Musiktheater, in das man noch so gerne versinkt. Modestas Pitrenas und das Sinfonieorchester St. Gallen beweisen mit der packenden Wiedergabe dieser hörenswerten Partitur ihre stilistische Vielseitigkeit. Das ist großartig.

Bühne und Darsteller

Der Regisseur Krystian Lada, auch verantwortliche für Bühnenbild und Video, der Choreograf Frank Fannar Pedersen, die Kostümdesignerin Bente Rolandsdotter und der Lichtdesigner Aleksandr Prowaliński bescheren dem Publikum eine stimmige Inszenierung, welche sich im zweiten Teil – wo die einzelnen Szenen etwas länger sind – noch zusätzlich verdichtet, an Intensität gewinnt und Betroffenheit evoziert. Die weißen Plastikvorhänge, welche in unterschiedlicher Transparenz die Bühnentiefe unterteilen, mögen Geschmackssache sein. Der Einbezug der Tanzkompanie St. Gallen ist meines Erachtens geglückt, die Tänzer führen die Befindlichkeiten der Handelnden auf eine metaphorische Ebene, ohne aufdringlich zu wirken. So entstehen Tableaux von großer poetischer Kraft – die Ebenbilder Lilis mit den weißen Lilien. Nach der Pause sind die Plastikvorhänge dann verschwunden, ein großer Raum mit Klappstühlen an den Wänden und einem Tisch in der Mitte – der als OP-Tisch in der Dresdener Klinik, als Schlachtbank im Haus der Mutter in Vejle und als Sarg für die junge Frau, der gegen ihren Willen die Gebärmutter entnommen wird, dient – genügt vollauf, um die Schauplätze zu verorten. Besonders erwähnenswert ist die Lichtgestaltung von Aleksandr Prowaliński: Jeder Szenenwechsel wird durch rotes Licht angekündigt, der Handlungsort wird projiziert. Eine besondere Farbdramaturgie entfaltet sich im zweiten Teil, wo die Leuchtröhren an der Decke und das indirekte Licht von Gelb zu Blau, dann zu Figuren im roten Schattenriss und am Ende zu milchigem Weiss wechseln, Scheinwerfer ins Publikum durch dichte Schwaden von Theaternebel leuchten und die Protagonistin nach den gesungenen Worten I AM A WOMAN im inneren Frieden langsam nach hinten schreitet. Da bleibt kein Auge trocken.

Das liegt natürlich an den exzellenten Ausführenden auf der Bühne, allen voran an der Baritonistin Lucia Lucas, die auch an der Dramaturgie der Oper mitgearbeitet hat. Lucia Lucas hat eine ähnliche Geschichte erlebt und Entwicklung durchgemacht wie Einar Wegener in LILI ELBE. Als Ensemblemitglied des Badischen Staatstheaters in Karlsruhe hatte sie anlässlich des Opernballs ihr Coming-out, als sie im Frauenkleid und geschminkt auftrat. Auch nach Hormontherapien und Operationen blieb ihr ihre wohlklingende, sonore Bariton-Stimme erhalten. Sie singt unterdessen ein breites Repertoire männlicher Cis-Partien als Frau, von Don Giovanni bis Wotan. Mit ihrer persönlichen Geschichte ist sie natürlich prädestiniert für die Rolle von Einar-Lili und ein Glücksfall für die Produktion. Allerdings bin ich überzeugt, dass in dieser Oper die Rolle auch von einem Cis-Mann wunderbar interpretiert werden könnte. Lucia Lucas ist vor allem in den ausgedehnteren Soloszenen und den Duetten mit Gerda, wo ihre gegenseitigen Gefühlslagen ausgebreitet werden, von berührender Kraft.

(c) Ludwig Olah

Sylvia D’Eramo singt diese Gerda mit warmer, raumfüllender Stimme, zeigt die emotionalen Achterbahnfahrten der Gerda mit großer Authentizität. Nachdem sie nach der Annullierung der Ehe mit Einar (Lili) den Macho-Latin Lover-Major Fernando Prota geheiratet hatte, stellte sie ernüchtert fest, dass sie lieber mit Lili verheiratet geblieben wäre – „Why can’t two women stay married?“. Nun, das hatte der dänische König Christian X. trotz aller Liberalität dann eben doch nicht erlaubt. Er trat bei der gerichtlichen Anhörung leibhaftig auf, stand in Galauniform auf der Empore. Kristján Jóhannesson singt ihn, wie auch den Porta und einen Kunstkritiker in der Galerie mit sonorem Bariton. Auch Mack Wolz (Mezzosopran) singt mehrere Rollen und gestaltet jede mit immenser Eindringlichkeit: Sie ist Gerdas beste und quirlige Freundin Anna Larssen Bjøner (auch Orpheus in der Opernaufführung), eine darstellerisch aufrüttelnde Mutter Wegener und vor allem die verstörte, anrührende junge Frau, der die Gebärmutter entnommen werden soll. Die Vielseitigkeit von Frau Walz ist ereignishaft. Jennifer Panada als Hélène und David Maze als Eric Allatini verkörpern wunderbar die Pariser Bohème, der Claude LeJeune wird mit konzisem Tenor von Brian Michael Moore verkörpert, Msimelelo Mbali macht als (nicht uneigennützig und selbstverliebt agierender) Professor Dr. Warnekros gute Figur. Lilis Bruder Marius wird von der Bassbaritonistin Sam Taskinen mit einnehmender, runder Stimme gesungen. Aufhorchen lässt die Mark und Bein durchdringende Stimme des Coutertenors Théo Imart, welcher sowohl der dänischen Gräfin als auch vor allem der biederen Schwester Lilis, Dagmar, und der Oberschwester in der Dresdener Klinik vehementes Profil verleiht.

Nach dieser gelungenen Uraufführung in St. Gallen wünscht man dem Werk, dass es nicht das Schicksal als Eintagsfliege erleiden werde, dem so viel Uraufführungen der letzten Jahrzehnte anheimfallen. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ich nach der Uraufführung einer zeitgenössischen Oper sage: Doch, das möchte ich mir sehr gerne nochmals anhören und -sehen.

Kaspar Sannemann 25. Oktober 2023


Lili Elbe
Tobias Picker

Theater St. Gallen

Besuchte Uraufführung: 22. Oktober 2023

Inszenierung: Krystian Lada
Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas
Sinfonieorchester St. Gallen