Einmal mehr ein grandioses Konzerterlebnis, das lange nachhallen wird – und dies, obwohl der Dirigent für den erkrankten Philippe Jordan eingesprungen war. Ein Glücksfall im doppelten Sinne, denn erstens stand der GMD der Oper Frankfurt, Thomas Guggeis, nach Angaben der Intendantin Ilona Schmiel schon einige Zeit auf der Wunschliste der Tonhalle-Gesellschaft und zweitens, weil er das von Jordan konzipierte Programm vorbehaltlos und vollständig zu übernehmen bereit war. Viel Ravel, viel „Walzer“ und dazu Liszts zweites Klavierkonzert.
Gibt es da Verbindungen zwischen den beiden Komponisten, außer dass sie beide dem Klavier als Komponisten und exzellente Tastenvirtuosen sehr zugeneigt waren? Oh ja, die gibt es tatsächlich. Denn Ravel war ein großer Bewunderer von Liszts Schaffen und verteidigte dieses auch gegenüber Kritikern, indem er betonte, dass „mehrere Generationen berühmter Komponisten aus dem ungeheuren und großartigen Chaos musikalischer Materie in Liszts Werk schöpften“. In vielem war Liszt schon früh ein Vorreiter des Impressionismus mit seiner Klangmalerei, seinen manchmal kurzen, wie abgebrochen wirkenden Phrasen und seiner unvergleichlichen Virtuosität und Komplexität im Strukturellen, mit den vielen unaufgelösten, wie abgebrochen wirkenden musikalischen Abschnitten.
Begonnen wurde das Konzert gestern Abend mit Ravels VALSES NOBLES ET SENTIMENTALES. Von Beginn weg wurde es auch optisch offensichtlich, wie sehr Thomas Guggeis bestrebt war, großen Wert auf die plastische Durchformung der Musik zu legen. Diese schien aus seinem Körper herauszustreben, das (einmal mehr) mit fantastischer klanglicher und rhythmischer Exzellenz aufspielende Tonhalle-Orchester Zürich zu erfassen und das Publikum in die differenziert ausgelotete Klangwelt dieser sieben Walzer plus Epilog zu katapultieren. Unter Thomas Guggeis Leitung klang nichts weichgespült, die Dissonanzen, die Verschiebungen der Betonung, welche das „Schräge“, das „Moderne“ akzentuierten, wurden energiegeladen und spannungsreich evoziert. Nostalgisches, beinahe Blues-Artiges mit Vogelstimmen Einschlag, Ätherisches und zur Mystik Neigendes standen neben wie aus Fetzen zusammengefügter Entladung im Rauschhaften. Im subtil gestalteten Epilog vermischten sich Motive der vorangehenden kurzen Stücke in wie verweht wirkender, melancholischer Rückbesinnung.
Liszts größere Werke für Klavier und Orchester (neben den beiden Klavierkonzerten gibt es auch noch den TOTENTANZ) sind im Gegensatz zu den Klavierkonzerten anderer Romantiker und Spätromantiker (Schumann, Grieg, Brahms, Tschaikowski, Rachmaninow) leider seltener im Konzertsaal anzutreffen. Dabei ist gerade das zweite Klavierkonzert in A-Dur von Liszt eine faszinierende und (wie der begeisterte Applaus des Publikums gestern Abend bewies) eine durch und durch spannende und mitreißende Komposition. Und der mazedonische Pianist Simon Trpčeski ist ihr beredter, subtil virtuoser Anwalt. Wie Trpčeski die mal lyrische, dann wieder eher sperrige Verarbeitung des Kernthemas, das mit kristallinen Läufen Umspielende, dann wieder in kraftvolle Akkorde integrierte Dehnen, Kürzen, Variieren evoziert, ist ein Wunderwerk an pianistischer Gabe. Da steht Attacke neben funkelnden Kaskaden, da treffen sich das Solo-Cello und das Klavier (und später die Solovioline) in poetischer, gesanglich-verträumter Zweisamkeit. Diese wird kurz danach durch knalligen Galopp und marschartige Überhöhung des Kernthemas mit virtuosem Spiel des Solisten und feinen Glissandi abgelöst. Auffallend, wie der Meister am Klavier immer wieder den Blickkontakt nicht nur mit dem Dirigenten sucht und findet, sondern er schien auch die Musiker des Orchesters mit seinen liebevollen Blicken (und beim Schlussapplaus auch körperlich) zu umarmen – und dies, obwohl dem Solisten in diesem Konzert kaum eine Ruhepause gegönnt ist. Auch für Trpčeski war dies, wie für Thomas Guggeis, der erste Auftritt im großen Saal der Tonhalle Zürich. Allerdings hatte er Liszts Klavierkonzert 2018 bereits einmal auf einer Tournee mit dem Tonhalle-Orchester gespielt. Als Zugabe nahmen die beiden Musiker, Guggeis und Trpčeski, am Flügel Platz und spielten mit offensichtlichem Vergnügen Ravels Laideronnette, impératrice des pagodes aus Ravels MA MÈRE L’OYE für Klavier zu vier Händen. Herrlich!
Mit Ravel pur ging es dann auch nach der Pause weiter. In der Suite Nr. 2 DAPHNIS ET CHLOÉ wurde einmal mehr offenbar, welch genialer Meister der Orchestrierungskunst Ravel war: Im ersten Teil, Lever du jour, wird man auf einem breiten Klangteppich in diese Morgendämmerung getragen, nimmt Teil am Erwachen von Daphnis und Chloé (man spürt förmlich, wie sie im Aufbäumen der Musik nochmals ihre Liebesnacht durchleben), die Flöte zwitschert fröhlich dazwischen. Das Tonhalle-Orchester Zürich rief diese Stimmung mit wunderbarer Farbenpracht herbei. Die Geburt der Panflöte wird im zweiten Teil, Pantomime, geschildert, und die Soloflötistin Sabine Poyé Morel bewältigte diese dankbare Aufgabe mit virtuoser Bravour. Und in dieses Lob darf man getrost die gesamte Gruppe der Holzbläser des Tonhalle-Orchesters mit einbeziehen, für die Ravel in all seinen Werken ganz besonders farbenreiche Passagen komponiert hatte. Mit der bacchantischen Danse génerale zauberte der Magier Thomas Guggeis am Pult am Ende der Suite noch einmal den grandiosen Farbenreichtum mit rhythmischer Prägnanz aus dem Orchester hervor.

Bevor er und das Orchester mit LA VALSE loslegten, wandte sich der Dirigent ans Publikum und gab einige Erläuterungen zum folgenden Werk ab, verwies auf die VALSES NOBLES ET SENTIMENTALES, die noch weit vor dem ersten Weltkrieg entstanden waren und machte auf die Unterschiede zu LA VALSE aufmerksam, dem erst nach der Weltkriegserfahrung Ravels uraufgeführten Werk. In seinem Dirigat betonte der Dirigent dann auch deutlich die im Beginn schon evidenten, brodelnden Untertöne in den verweht hereinklingenden Walzertakten. Wunderbar herausgearbeitet gelang die Passage mit dem vom Orchester begleitenden Streichquartett. Die brodelnde, drängende Sogwirkung des Dreivierteltaktes nahm gefährliche Fahrt auf, entlud sich in einem wütenden, ja fuchsteufelswilden Inferno, der Komponist schien sich würgend zu übergeben – ja der Walzer geriet zu einem krankhaft-verzweifelten Todestanz, der alles und alle in den Abgrund riss. Eigentlich hätte man einen Moment lang erstarrt verharren müssen, aber nach dieser gewaltigen Leistung der Ausführenden entlud sich natürlich der jubelnde Applaus umgehend.
Wer sich für das zweite Konzert heute Abend noch ein Ticket ergattern sollte, kann sich glücklich schätzen!
Kaspar Sannemann, 15. Dezember 2025
Maurice Ravel: VALSES NOBLES ET SENTIMENTALES
Franz Liszt: Klavierkonzert Nr. 2 A-Dur
Maurice Ravel: DAPHNIS ET CHLOÉ, Suite Nr. 2
Maurice Ravel: LA VALSE
Tonhalle Zürich
Konzert am 10. Dezember 2025
Pianist: Simon Trpčeski
Dirigat: Thomas Guggeis
Tonhalle-Orchester Zürich