Dieser Abend geriet zu einem Konzerterlebnis, das seinesgleichen sucht. Persönlich war ich noch selten dermaßen ergriffen von einer Sinfonie, wie dieser 2. Sinfonie von Josef Suk, die er mit Ashrael, dem Todesengel, übertitelte. Mit Jakub Hrůša (dem designierten Musikdirektor des Royal Opera Hous Covent Garden und Chefdirigenten der Bamberger Symphoniker) am Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich übernahm ein Landsmann Suks die Leitung des Konzerts, und man spürte sofort, dass dem auswendig dirigierenden Maestro diese Musik eine Herzensangelegenheit war. Mit jedem Schlag, jeder Geste „lebte“ er dieses wundervolle Werk, übertrug seine Liebe und Achtung vor dem Meisterwerk zuerst auf das in Hochform aufspielende und in einer Riesenbesetzung angetretene Tonhalle-Orchester und letztlich auch aufs Publikum, das mit konzentrierter Ergriffenheit den schmerzerfüllten Klängen lauschte.
Erstaunlich ist, dass diese Sinfonie aus der Spätromantik zum ersten Mal in der Tonhalle aufgeführt wurde – lange hat man darauf warten müssen, doch das Warten hat sich mehr als gelohnt. Mit zwei Paukenschlägen setzte die Musik ein, dass das gesamte Werk durchziehende Trauermotiv erklang zuerst in den Bratschen und den Celli, breitete sich wuchtig und schmerzensreich aus. Aufflammende, glutvolle Phrasen steigerten sich zu regelrechten Klangexplosionen (die neu renovierte Tonhalle hielt sie problemlos aus!), Pauken und Becken knallten die Schicksalsschläge rein, alles kulminierte, bevor der Kopfsatz in Trauer verklang. Der zweite Satz, ein Andante, setzte sehr fein an, Jakub Hrůša achtete auf größtmögliche klangliche Transparenz. Sehrend stieg ein trauriges Motiv der Streicher auf, dass die wunderbar fein gespielte Flöte übernahm. Perfekt begleiteten die Streicher mit ihren Pizzicati. Auch im Vivace des dritten Satzes brillierte die Flöte, gefolgt von wuchtigen klanglichen Verästelungen. Die Solovioline des Konzertmeisters Klaidi Sahatçi intonierte Phrasen von wärmendem Charakter, nie süßlich, aber von Seele erfüllt. Leidenschaftliche Emphase, entsetztes Aufbegehren und eine schicksalsergebene Unentrinnbarkeit prägten den Satz. Applaus wollte aufbranden, doch Hrůša legte bloß eine längere Pause ein, weil Suk in den letzten beiden Sätzen seiner viel zu jung verstorben Frau gedachte.
Im ersten Adagio, geprägt von herzzerreißenden Klagen, war man ebenfalls mit bewegenden Einwürfen der Solovioline konfrontiert (auch Suk selbst war ja ein begnadeter Geigenspieler gewesen) und herrlichen Kantilenen des von Paul Handschke so wunderbar ergreifend gespielten Solocellos. Erneut riefen gewaltige Schläge der Pauke zum Finalsatz, ebenfalls einem Adagio (maestoso). Hier spürte man sehr klar die Schmerzen, unter denen Suk bei der Komposition gelitten haben musste, aber auch die Katharsis im Meisterwerk, das durch diese Trauerarbeit entstanden war. Choralartige Passagen des (exzellent spielenden Blechs) brachten keine Ruhe in den Satz, immer wieder griff das Orchester mit scharfer Erregtheit ein, der Geist in Aufruhr. Erst ganz am Ende kam es zu einer celestialen Ruhe und Schönheit und Sanftheit. Die Trauer und der Schmerz waren sublimiert, das übermenschliche Leid durch den Tod zweier geliebter Menschen – des hoch geachteten Schwiegervaters Antonin Dvořák und dessen Tochter und Suks Ehefrau Otilie. Erst nach mehr als einer Minute der absoluten Stille und Ergriffenheit brandete der Jubel des Publikums auf. Es sind genau solche Momente, die man eben nur live im Konzertsaal erleben kann!
Vor der Pause kam man in den Genuss einer „Orgelsinfonie“ des Japaners Toshio Hosokawa, welcher den diesjährigen Creative Chair bei der Tonhalle Zürich innehat. Auch dieses Werk, das als Schweizer Erstaufführung erklang, verlangt eine Riesenbesetzung. Dazu kommt noch das Klangerlebnis der Orgel, für welche man den Organisten Christian Schmitt verpflichten konnte, der einerseits bereits das ihm gewidmete Werk in Bamberg uraufgeführt hatte, andererseits auch als Berater für die neue Orgel in der Tonhalle tätig war. Um es gleich vorneweg zu sagen: Vor dem Werk Hosokawas muss man sich nicht fürchten, das ist zeitgenössische Musik die man sich ohne physischen Schmerz zu empfinden anhören kann. Mystische Klänge zu Beginn, mit der Orgel als Impulsgeberin, Musik, die regelrecht einfährt, neue Welten und interessante Klangerfahrungen eröffnet, ein Orchester, dass gewaltige Arpeggien spielt, Höllenschlunde öffnet, aus denen Klangmassen strömen, gegen den „Kirchenklang“ der Orgel erfolgreich ankämpft. Yin und Yang eben. Manchmal hat man das Gefühl, sich auf einem psychedelischen Trip zu befinden, von Seiten der Orgel viel Licht und herrliche Klangfarben, im Orchester oft Wiederholungen von Themen und Rhythmen, was das Hören und Eintauchen in die Musik vereinfacht. Am Ende verhallten beide Stimmen, die des Orchesters und die der Orgel im Nirgendwo der verhaltenen Zärtlichkeit, einer innigen Umarmung, die dem Werk den Namen gab.
Mit der Zugabe eines Stücks für die Orgel von Max Reger (schade, dass man in den Sinfoniekonzerten kaum mehr Musik von ihm hört) hatte Christian Schmitt die Zuhörer im leider nicht restlos ausverkauften Saal definitiv für sich gewonnen: Was für ein unglaubliches Crescendo zu überwältigender Erhabenheit ist darin angelegt, gekrönt von euphorisierenden Beckenschlägen.
Fazit: Zutiefst erschütternd, aufwühlend und bewegend! Unbedingt hingehen, es gibt noch ausreichend Karten für heute Abend.
Kaspar Sannemann 1. Juli 2023
Zürich
Tonhalle
29. Juni 2023
Suk, 2. Sinfonie
Toshio Hosokawa: Umarmung – Licht und Schatten, für Orgel und Orchester
Dirigat: Jakub Hrůša
Tonhalle Orchester Zürich