Die Oper gilt, vertraut man dem einschlägigen Nachschlagewerk, also „Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“, dramaturgisch als problematisch. Der Textdichter, „der sonst als Meister der dichterischen Form und des poetischen Ausdrucks gelten“ müsse, habe hier „erhebliche Schwächen nicht nur im dramatischen Aufbau und im logischen Gefüge der Handlung, sondern stellenweise auch in der dichterischen Darstellung und Verstechnik“ gezeigt – doch sei es dem Komponisten gelungen, „einige prekäre Stellen musikalisch zu überbrücken oder wenigstens teilweise auszugleichen und zugleich die Möglichkeiten theatralischer Effekte wirkungsvoll auszunutzen“. Schon die Uraufführung war kein Erfolg, die Anzahl der Aufführungen der Oper bei uns kann man zählen, doch auch in ihrem Heimatland ist sie ein sehr seltener Gast. Liegt‘s an den von der verehrten tschechischen Musikwissenschaftlerin Véra Vyslouzilova bemerkten Schwächen des Textbuchs? Doch muss es nicht verwundern, dass Dvořák, der die Dame Armida kurz nach seinem musikdramatischen chef d’oeuvre „Rusalka“, also auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Kraft, komponierte, mit diesem Werk bis heute nicht ankam?
Kein „schwaches“ Libretto hat bislang die Durchsetzung eines bedeutenden musikdramatischen Werks behindern können – und der Text des Jaroslav Vrchlycký, den der Musiker unter den Händen hatte, ist, so die Aussage meiner tschechischen Begleiterin, längst nicht so schlecht, wie es im Handbuch geschrieben steht. Im Gegenteil: Vrchlycký schrieb (wenn ich der Aussage trauen darf – und ich tue es) einen dichterisch guten Text, der optimal komponierbar war. Der Rest ist Drama pur, Leidenschaft, Pathos, Handlung, große musikalische Inspiriertheit und eine Kontrastdramaturgie, die mit überaus wirksamen dramatischen und lyrischen Mitteln ausgeschöpft wurde. Kein Wunder: ein Meister kann sich nicht verleugnen. Der Umstand, dass Dvořáks „Armida“ heute kaum ein Heimatrecht auf tschechischen und schon gar nicht auf aussertschechischen Bühnen besitzt, könnte allerdings mit einer Eigenheit des Werks zusammenhängen, die mit dem Uraufführungszeitpunkt zusammenhängt und bis heute nachwirkt: sie kam, rein gattungsmäßig betrachtet, um ein paar Jahrzehnte zu spät. Als „Große Oper“ im Gefolge all der anderen Armida-Opern, die seit dem 17. Jahrhundert in Fülle komponiert wurden, bot sie dem Publikum, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen „echten“ Dvořák, aber gewiss keine Heldenoper im dramatischen Stil des 19. Jahrhunderts erwartete, war sie seinerzeit schier anachronistisch. Diese Unzeitgemäßheit aber hängt dem schönen Stück bis heute an. Urteile über sie können sich lediglich auf die beiden vorliegenden Gesamtaufnahmen, aber kaum auf lebendige Anschauungen verlassen. Rein musikalisch aber bietet „Armida“ alles, was eine gute Oper besitzen muss – vorausgesetzt, man akzeptiert die Tatsache, dass „Armida“ ein Werk der reinsten Naivität ist. Alles kommt unverstellt, ohne jeglichen doppelten Boden auf die Szene: der Zauber des „Heidentums“ und die Vierschrötig- und Tapferkeit des „Christentums“, die schwarze Magie des orientalischen Magiers und die schroffe Unnachgiebigkeit des weißen Mönchs, die erotische Anziehungskraft der schönen Frau aus Morgenland und die adlige Ehrlichkeit des christlichen Heerführers. Hier die Fanfaren und Choräle der Kreuzfahrer, dort die chromatischen Schlangenlinien der Zauberin. Trotzdem reduziert sich der Konflikt zwischen Abend- und Morgenland nicht auf primitive Gegensätze. Zu den dramaturgischen „Schwächen“ gehört im Wesentlichen die Charakterzeichnung der Armida, die einerseits dem christlichen Ritter Rinaldo vom ersten Anblick an verfallen ist (wobei sie zu den schönsten lyrischen Tönen verführt wird), zum anderen die Tatsache, dass sie trotz ihres Widerstands gegen den syrischen Herrscher und Zauberers, der die Schöne selbst begehrt und sie als todbringendes Werkzeug gegen die Kreuzfahrer in den Krieg schicken will, in das Lager der Ritter geht – doch nur, um ihrem Idol nahe zu sein. Rinaldo, seinerseits von der schönen Armida verzaubert, ergibt sich ihrem Werben. Die Konflikte, die sich zwischen den Kriegsparteien ergeben, sind vorhersehbar – und logisch. Dass Armida zunächst in reinem Weiß (und mit Pfeil und Bogen einer Jägerin sowie mit einem an die Walkürenfedern erinnernden Kopfschmuck) auftritt, ist kein Zufall – erst im Lager der Christen wird sie schwarzverschleiert erscheinen, bevor sie in ihrem Zaubergarten ein blutrotes Kleid tragen wird. Ihre von Hartmut Schörghofer erdachte Kostüm- und Farbdramaturgie ist einfach – und sinnfällig überzeugend.
Wer Dvořáks „Armida“ am Divadlo Josefa Kajetána Tyla (DJKT) Plzeň in einer Koproduktion mit dem Wexford Festival sieht und hört, bekommt also ein vollblütiges, durchaus nicht unlogisches, musikalisch reiches und schlagkräftig organisiertes Werk zu hören und zu sehen, das die alte, naive und doch nicht dumme Liebesoper in ihr Recht setzt. Da sie zu Zeiten des ersten Kreuzzugs, noch dazu in und bei Damaskus spielt, wäre sie ein gefundenes Fressen für jeden Interpreten, der beim Stichwort „Syrien“ sein Regiebesteck auspacken könnte, um das Werk der Probe einer „Aktualisierung“ auszusetzen – die sie nicht benötigt, weil Dvořáks Muse den Musiker so intensiv ausgestattet hat, dass auch eine „konservative“ Inszenierung wie die des Martin Otava gute Wirkung tut. Voraussetzung für das Gelingen einer relativ naiven Dramaturgie sind die Sänger, die die Hauptrollen mit Kraft und Pathos realisieren müssen und über dem manchmal massiven Orchestersatz starken Einsatz zeigen müssen. In Plzen begeisterte das Orchester des Theaters unter dem Dirigenten Jakub Zicha mit feiner Abstimmung der Klangfarben, nicht unbedingt immer mit der totalen Rücksicht auf die Sängerkehlen, aber insgesamt war es ein Vergnügen, Dvořáks nuancenreiche Partitur einmal live zu erleben. Libuše Santorisová ist eine Zauberin von hohen vokalen Graden, deren dramatische Spitzen mit Wärme in den Raum klingen; in den szenischen Duellen mit dem „bösen“ Zauberer Ismen, den sie mit ihren magischen Gesten in Zwang hält, sehen wir auf dramatisch aufgeladene Szenen, die nicht mehr sein wollen, als sie sind: starke, auf Bilder konzentrierte Konflikte, die der Komponist mit einer aufwühlenden Begleitmusik verstärkt hat. „Hinter ihr bricht auf Ismenes Wink die Burg zusammen“ – da sind so die Handlungsbeschreibungen, in denen weniger gekleckert als geklotzt wird, but it works. Die Oper endet mit dem Tod der Armida, die durch die Hand ihres geliebten Ritter stirbt, weil der sich am Ende, aus dem Wahnsinn erwacht, in den ihn der Konflikt zwischen Ost und West verstrickte, wieder zu seinen christlichen Kameraden bekennt. Der Rest ist sentimental: die sterbende Frau empfängt durch Rinaldo noch gerade rechtzeitig eine Nottaufe, um die Hoffnung zu haben, einst mit ihm in irgendeinem Himmel wiedervereinigt zu werden. Ist das Kitsch? Ja, aber er ist, wie Brecht gesagt hätte, gut gemeint – und gut gemacht, zumal dann, wenn Libuše Santorisová auf der Bühne steht, die uns, im Stil des tschechischen Opernrealismus agierend und betörend singend, von ihrer Geschichte zu überzeugen vermag. Kommt hinzu die gelegentliche Nähe zu Dvořáks bekanntester Opernfigur – denn ist Armida nicht, auch manchmal deutlich musikalisch, eine orientalische Rusalka, die in der Liebe zum Prinzen aus der anderen Welt zwangsläufig scheitern muss?
Jakub Pustina heißt ihr Ritter; als Rinaldo durchläuft er viele Stadien: Idealismus, schwere Verliebtheit, Betörtheit, kranke Verwirrung, Wiederherstellung und tiefe Trauer um die sterbende Geliebte. Pustina stattet alle diese Zustände mit je verschiedenen Vokalgraden aus, als lyrischer Tenor kann er das alles: bis zum Wahnsinn. Seine lange Solo-Szene, gut zu Beginn des vierten, letzten Akts platziert, gehört zu den großen Eindrücken dieses Abends. Seinen Gegenpol findet er stimmlich und schauspielerisch im dämonischen Ismen. Andrii Kharlamov erinnert an den Jesuiten Rangoni (im „Boris Godunow“): die schwarze Seite des Heidentums äußerst sich in dramatisch großen Gesten und einem hinreißenden Bassbariton, in einer aggressiven Gestik und selbstbewussten Auftritten – auch als Kontrast zur Zauberlyrik, die Armida in ihrem Zaubergarten entfacht, in dem sie sich ein schönes Gefecht bieten. Zu den musikalischen Schönheiten dieses durchgehend inspirierten Werks gehört die erste Szene des dritten Akts, in dem sich der Ritter wie ein von der Schönheit und Zärtlichkeit der exotischen Frau überwältigter Parsifal, umringt von den choreographisch wedelnden und singenden „Sirenen“ und „Nymphen“ (Choreographie des Balletts des DJKT samt vierer Solo-Grazien: Karel Basák), auf das Liebeslager begibt. Bleibt der Eremit Petr des Jan Hnyk: der eigentliche Gegenspieler des Ismen, ihm an bassbaritonaler und dramatischer Durchschlagskraft absolut ebenbürtig. Der Bohumír z Bouillouno, also der aus der Lohengrin-Sage bekannte Gottfried von Bouillon des Jakub Hliněnský, wurde als indisponiert angekündigt, was wohl mehr eine Vorsichtsmaßnahme als ein Faktum war. Zuletzt muss der zuerst auftretende Jevhen Šokalo genannt werden, der als alter König Hydraot, ein Porträt wie von Rembrandt gemalt, eine einzige Szene hat – aber die machte er mit seinem kräftigen Bass eindrücklich. Die Ensembles (zumal mit dem ausgezeichneten Männerchor, aber auch der gemischte Chor, der, ganz im Geist der Grand Opéra, die erste Szene beginnt), das dramatische Terzett mit Hnyk, Pustina und Santorisová, die Liebesduette, all das konnte einen Opernfreund begeistern.
Die Szene arbeitet mit einige wenigen Videos, der Projektion des ritterlichen Zeltlagers, einem arabischen Bogen, Zaubervisualisierungen; die Bühne wird von einer durchsichtigen bzw. verspiegelten Fläche diagonal durchzogen und bietet, mit den beiden oberen Orchesterlogen, genügend Spiel-Raum, ohne die Fantasie zu ermüden oder zu knechten. Hier findet keine Meta-Interpretation, sondern die einfache Erzählung einer Oper statt, die man erst einmal kennen lernen muss, um sie vielleicht einmal in einer doppelbödigen Deutung kennenzulernen, aber so, wie sie hier demonstriert wird, benötigt sie keine Erklärungsschicht. Vera Vyslouzilova hatte Recht, als sie 1987 schrieb: „Leider entspricht das Bühnenschicksal von ‚Armida‘ nicht ihrem künstlerischen Wert“. Es wäre schön, ginge von dieser Produktion eine Armida-Reniassance aus, die auch die deutschen Opernhäuser erreichen würde. Dvořáks letztes Meisterwerk hat es verdient, aus dem Abgrund der tschechischen Operngeschichte geholt zu werden. Die verdienstvolle Aufführung im schönen Theater zu Pilsen hat es problemlos bewiesen.
Frank Piontek, 13. Februar 2023
Antonín Dvořák: Armida
Divadlo Josefa Kajetána Tyla, Plzeň (Theater Pilsen)
Premiere am 28. Januar 2023
Inszenierung: Martin Otava
Ausstattung: Hartmut Schörghofer
Musikalische Leitung: Jakub Zicha
Chor und Orchester des Divadlo Josefa Kajetána Tyla, Plzeň