18.3. (Premiere am 28.11.1991)
Ein ungarischer Klassiker!
Lilla Pártay hat in ihrer ersten großen Choreographie Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“, jene tragische Geschichte um unerfüllte und unglückliche Liebe im zaristischen Russland des 19. Jhd, eindrucksvoll auf die Bühne gestellt. Musikalisch hat sie einerseits Tschaikowskys wunderbare Musik mit moderner Musik von Zoltán Rács (1972*) und dem atemberaubenden
Amadinda Percussion Ensemble kombiniert, andererseits den Kanon des klassischen Balletts um Ausdrucksformen des modernen Ausdruckstanzes erweitert. Das Ergebnis muss als gelungen angesehen werden, denn ihre Choreographie hält sich nun mehr bereits seit mehr als 25 Jahren im Repertoire.
Lilla Pártay reduzierte die Handlung der Novelle drastisch auf das Innenleben der Protagonisten, wodurch sich ihre Version entscheidend von der in Wien gezeigten Version von Boris Eifman (2001 UA in St. Petersburg) unterscheidet, die ein Psychodrama dieser ménage à trois mit Strindberg’schen Ausmaßen lustvoll zelebrierte. Im Zentrum der Handlung stehen bei Pártay drei Familien. Fürst Sztyepán mit Gattin Dolly, deren Schwester Kittyi und ihr Gatte Levin, sowie des Fürsten Schwester Anna, die mit dem wesentlich älteren Karenin unglücklich verheiratet ist. Annas Affäre mit Vronszkij verstößt jedoch gegen die gesellschaftlichen Konventionen jener Zeit und führt deshalb zum Selbstmord der stigmatisierten Ehebrecherin. Lóránt Kézdy ermöglichte mit seiner Ausstattung rasche Schauplatz- und Szenewechsel durch herabgelassene Prospekte und ergänzte diese um handlungsrelevante Versatzstücke wie ein Bett oder Stühle. Die historisierenden Kostüme von Judit Schäffer entsprechen der Entstehungszeit von Tolstois Roman (1873-78). Das Ballett beginnt und endet mit der poetischen Klammer des Bahnhofs in Moskau. Hier treffen im Prolog die handelnden Personen aufeinander, heir trifft Anna zum ersten Mal auf ihren späteren Geliebten Vronszkij und begeht sie dann auch Selbstmord und die übrigen Personen versammeln sich um ihren Leichnam.
Alexandra Kozmér überzeugte als leidgeprüfte unglücklich liebende Anna, die weder durch ihren Mann Karenin noch durch ihren kleinen Sohn von ihrer letztendlich tödlichen Liaison mit Vronszkij abgehalten werden kann. Iurii Kekalo übernahm die Rolle von Karenin, in der zuletzt Levente Bajári große Erfolge feiern konnte. Seine starre Haltung wird lediglich durch seinen Verzweiflungsausbruch während er auf Annas Heimkehr wartet etwas aufgeweicht. Zoltán Oláh punktet schon rein äußerlich als schneidiger Offizier und feuriger Liebhaber Vronszkij gegenüber dem verhaltenen und kalten Karenin. Nach seiner Eroberung zieht er sich aber aus der für ihn angespannten Situation durch Flucht zurück und überlässt Anna ihrem weiteren Schicksal. Dem Frieden des ländlichen Lebens verpflichtet ist das zweite Paar, Kitty und Levin, die von Lili Felméry und Dmitri Timofeev rollengerecht interpretiert wurden. Lea Földi als Dolly, Kim Minjung als Gräfin Lídia, Artemisz Bakó-Pisla als Herzogin Betsy und Levente Bajári als Annas Bruder Sztyepán verstanden es auch die kleineren Rollen präzise und tanzfreudig darzustellen.
Durch die einzelnen Szenen geistert immer wieder ein gekrümmt dahin schlurfender russischer Bauer, der bis zur Unkenntlichkeit in ein Fell gehüllt ist. In der vorletzten Szene legt er dann sein Fell ab und der Tod tritt mit ekstatisch-wildem Ausdruckstanz auf. Für diese Rolle gibt es nur einen Tänzer des Ungarischen Nationalballetts, der über eine solche Ausdrucksvielfalt, Gelenkigkeit und Präzision verfügt: Dávid Miklós Kerényi, Sohn des Direktors des Ungarischen Operettentheaters, Gábor Miklós Kerényi.
Dem Corps de ballet waren die zahlreichen russischen und italienischen Tänze überantwortet. Als russisches Solopaar gefielen Olga Chernakova und Maksym Kovtun und als zwei Russen noch András Rónai und Morimoto Ryosuke. Die Tarantella wurde schwungvoll von Cristina Balaban und Balázs Majoros getanzt. Als italienische Künstler ergänzten noch rollengerecht German Borsai, Vladyslav Melnyk und Benjamin Babácsi. Kittys Eltern wurden noch von Angela Mingardo und Attila Szakács würdevoll interpretiert.
András Déri unterstrich mit seinem Dirigat am Pult des Orchesters der Ungarischen Staatsoper die leidenschaftliche Musik Tschaikowskys, die das Bühnenleben der Tänzer und Tänzerinnen mit ungeheurer Kraft erfüllte, während die eingespielten perkussiven Klänge von Amadinda die seelischen Zustände kongenial ausdrückten. Das Publikum war begeistert und spendete lang anhaltenden Applaus.
Harald Lacina, 20.3.2017 Fotocredits (c) Zsófia Pályi