Mit Bogdan Roscic ist, der Beweis wurde längst erbracht, endgültig das modische Regietheater in die Wiener Oper eingezogen, die „bezugslose Inszenierung“, die den Beifall aller findet, die sich panisch davor fürchten, als „gestrig“ abgetan zu werden. Als ob Frank Castorf je etwas Neues zu bieten hätte – und nicht immer wieder dasselbe, das er mantra-artig wiederholt. Ob in einem ewig unverzeihlichen, verschaukelten Bayreuther „Ring“, ob in Gounods „Faust“, den die Wiener Staatsoper aus Stuttgart eingekauft hat, wo die Inszenierung 2016 heraus kam.
Man kann es „anreichern“ nennen, was Castorf vollbringt, Plunder, Trash ist seine szenische Weltanschauung Großstadtdschungel mit Video, permanentes Chaos, mutwilliger Wirbel, der entsetzlich pubertär wirkt. Seine grundsätzliche Haltung besagt, alles in die in die Schäbigkeit hinunter zu interpretieren.
Versetzt in ein Paris der Unterschicht, wo Epochen durcheinander purzeln (nur das Mittelalter ist es sicher nicht – Aleksandar Denić und Adriana Braga Peretzki sorgen für den Bühnen-Plunder), lässt Castorf von der „Faust“-Geschichte keinen Stein auf dem anderen. Nun, er hat sich schon an Wagners Göttern vergriffen, da hat er auch vor dem Teufel keine Angst. Und ein keusches, wahrhaft liebendes Mädchen – was ist das? Das glaubt doch keiner. Aus der müssen wir doch gleich eine Nutte machen. Und Faust? Wer ist das? Wurscht. Der soll singen.
Nicole Car, Juan Diego Florez. Foto Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Und so stolpern sie durch ihr Chaos, vervielfacht wie immer (nervtötend) auf Videoscreens, wo auch noch alle möglichen Assoziationen eingespielt werden, und erzählen eben – irgendetwas, aufgeputzt mit irgendwelchen Ideen. Ob das, was sie singen („Salut, Demeure Chaste Et Pure“ – ha!) irgendetwas mit dem zu tun hat, was da auf der Szene passiert, ist egal, Hauptsache es ist grell und schockt (eine Riesenschlange, wui!).
Aber sagen wir zumindest ehrlich eines – man merkt es am Chor, an der Personenführung: Musikalisch scheint Castorf zu sein, da passiert nichts Falsches. Sonst schon.
Adam Palka. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
In der Pause spielte man Szenen der Matinee ab, und da wurde unzweifelhaft klar, dass sowohl Florez wie Car ganz genau wussten, dass sie etwas grundsätzlich anderes spielen mussten, als eigentlich gemeint war. Aber sie üben ihren Beruf aus, sagen gehorsam, dass sie dafür sorgen müssen, dass das Konzept „works“ – ja, und dann tun sie halt, was sie können.
Der Titelheld hat zumindest die benötigte Stimme: Juan Diego Florez ist den Schritt in die richtige Richtung gegangen, zu seiner bekannten Höhensicherheit kommt jetzt noch die Dramatik und ein im Vergleich zu früher reicheres Timbre. Dass er kein darstellerisches Supertalent ist – na, die sind unter den Sängern ohnedies nicht die Majorität. Nicole Car als Nutten-Gretchen mit der scharfen Stimme kann mit dieser Castorf’schen Groteskfigur nicht ergreifen. Dass sie statt zu sterben ins Kaffeehaus gehen muss und ein Gläschen kippt – was macht das noch aus? Ein wendiges Teufelchen ist Adam Palka, der auch ganz schön Stimme geben (bis orgeln) kann.
Solide die Nebenrollen, Étienne Dupuis mit markig-metallischem Bariton als Valentin, Kate Lindsey als persönlichkeitsstarker, wenn auch nicht unbedingt schönstimmiger Siebel, Monika Bohinec als Marthe und Martin Häßler als Wagner versinken so ziemlich im Wirbel. Sie alle werden souverän zusammen gehalten von Bertrand de Billy, der die bekannten Effekte der Musik nicht scheut, aber auch nicht überreizt.
Castorf inszeniert für Leute, die sich nichts aus Oper machen, aber so sehr gewohnt sind, wahllos von Eindrücken überschüttet zu werden, dass sie diese gar nicht hinterfragen und als ihr übliches Entertainment hinnehmen. Und das ist dann Zeitgeist und „zeitgemäß“. Wie sagte doch Goethe? „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln…“
Und wer zu all dem den Kopf schüttelt, sich weigert, das toll zu finden, nicht bereit ist, sich das aufs Auge drücken zu lassen (Anschluss verpasst? Sagen wir lieber: Verstand nicht abgegeben, nicht resignieren, weil: Heute ist das eben so!), wird unter Androhung der Verachtung in die Dinosaurier-Regionen verwiesen: Pfui, weg mit Euch altmodischem Gesindel! Und die Selbstzufriedenen finden sicher noch Zeit, während dieser „Faust“-Aufführung ein bisschen am Smartphone zu chatten, „Bin gerade in der Oper, ist ganz lustig…“.
Renate Wagner, 7.5.2021
Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Pöhn