Wien: „Die Meistersinger von Nürnberg“, Richard Wagner

Die Neuinszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner, keine Komödie, sondern nach des Bayreuther Meisters Bezeichnung eine „Oper in drei Aufzügen“, in der Regie von Altmeister Keith Warner, führt uns angesichts der derzeitigen Wagner-Ästhetik an der Wiener Staatsoper („Parsifal“ und „Tristan und Isolde“) relativ unerwartet in die Gefilde eines Inszenierungsstils, den manche schon für überholt halten, die große Mehrheit der Wagner-Liebhaber aber aufgrund seiner Nähe zu Werkaussage, Libretto und Musik für viel angemessener, ja wünschenswert und richtig erachten. So war der zielsicheren Hand des Regisseurs, der auch noch mit dramaturgischen Unterstützungen keines Geringeren als Barry Millington arbeiten konnte, am Ende der Premiere ein Riesen-Publikumserfolg beschieden. Doch dazu später mehr. Ebenso herzlich wurde der Dirigent der – vom Autor ebenfalls besuchten – Premiere am 4. Dezember, Philippe Jordan, vor dem Vorgang empfangen, der sich vor Blumensträußen kaum retten konnte. Ein äußerst seltener Vorgang in Wien mit zweideutigen Intentionen.

Es ging schon gleich damit los, dass Warner zum ja relativ langen Vorspiel den Vorhang unten lässt, sodass man sich – wie in der Regel von den Komponisten gewünscht – rein musikalisch auf das Werk, das vor einem liegt, einstimmen kann. Die ständige Reizüberflutung inszenierter Vorspiele, in denen des Öfteren auch noch Taten gezeigt werden, die gar nicht aus dem Stück abzuleiten sind, ist ohnehin kaum noch auszuhalten. Schon hier zeigt sich die Theaterpranke des Regisseurs Warner, der den Vorhang erst kurz vor Ende des Vorspiels heben lässt, um Hans Sachs dann auf der Bühne ganz allein zu zeigen, mit dem schlafenden David am Stuhlbein. Offenbar unzufrieden geht Sachs poetischen Aktivitäten nach. Sofort wird klar, Keith Warner stellt Hans Sachs in den Mittelpunkt dieser Inszenierung, und zwar nicht nur als Schuster und Poet, sondern als Mensch mit allen Vorzügen und Mängeln, der nicht nur kompetent schwierige Situationen lösen kann, sondern auch große Probleme mit sich selbst hat, von denen Millington in einem hervorragenden und durchdachten Aufsatz im sehr guten Programmheft schreibt. So sieht Sachs seine Schwächen und in Stolzing den Künstler, der letztlich einen ganz neuen Weg in der Sangeskunst beschreitet, der ihm, dem großen Sachs, verwehrt blieb.

Auch ist seine persönliche Vergangenheit noch längst nicht verarbeitet. Schon auf der Festwiese kommt einmal kurz seine verstorbene Frau mitten im Tanz der „Mädel von Fürth“ auf die Bühne zu ihm, auf der er mit den jeweiligen Ständegruppen ohnehin eine offenbar bedeutungsschwere Beziehung zeigt. Sie lässt ihn tief ergriffen, ja einem Zusammenbruch nahe, zurück. Als sich das Gesangspodium vor der Präsentation Beckmessers wie von unbekannter Hand öffnet, wird ein Grab mit Kreuzen für Hanz Sachs und seine Frau sichtbar. Verzweifelt kniet er vor dem Grabe nieder, sodass er nicht sieht, dass oben seine Frau über das Podium schreitet. Das sind interessante und surreale Regieeinfälle, die klarmachen, dass es in Sachs noch andere emotionale und ganz persönliche Empfindungen und Ebenen gibt als der vielleicht bedauerte Verzicht auf Eva. Dazu gehört auch sein übertriebenes Schuheklopfen und solchermaßen intensives Schikanieren Beckmessers bei dessen Werbelied in der Nacht des 2. Aufzugs. Hier offenbart sich, wie Millington durchaus verständlich meint, eine „psychische Krise, eine Art Zusammenbruch“. Irrationale unmenschliche Komponenten hätten die Oberhand über die besseren Instinkte des Menschen Sachs gewonnen, was er in seinem späteren Wahn-Monolog im Prinzip selbst anerkennt.

(c) Pöhn

Warner zeichnet also ein weit vielschichtigeres Bild der Figur des Sachs, stellt ihn in den Mittelpunkt der Handlung sowie all ihrer entscheidenden Momente und geht somit in einer nachvollziehbaren und einleuchtenden Art und Weise weit über eine rein konventionelle Interpretation der Hauptfigur und damit um sie herum gestaltete Inszenierung hinaus, ohne jemals in Accessoires des Wagnerschen Regietheaters zu verfallen. Damit erlangt der Abend auch eine große innere und inhaltliche Spannung, die Philippe Jordan mit dem Orchester der Wiener Staatsoper musikalisch ständig unterstützt. Einige Male, als Sachs besonders kontempliert, taucht die Figur eines Kobolds (Josef Borbely) auf, den Bogdan Roščić in der Einführungsmatinee als Friedrich Nietzsche vorstellte.

Nun ist aber auch zu sagen, dass dem Regieteam zu dieser Interpretation des Sachs ein ganz exzellenter Vollblutkünstler zur Verfügung stand, ja nicht nur ein Sängerdarsteller, sondern ein Sängergestalter. Michael Volle, der schon in der „Meistersinger“-Produktion von Barry Kosky in Bayreuth brillierte, ist nun auch der Wiener Sachs und inkarniert diese Sichtweise der Hauptfigur auf bestechende, einnehmende und nachvollziehbare Art und Weise. Er ist in jedem Moment, in dem er auf der Bühne steht, und das ist bei Warner fast die ganze Zeit, die Hauptfigur, um die sich die anderen scharen, von deren Aktionen und Eingebungen sie abhängen, direkt sichtbar oder virtuell, womit nichts gegen die Qualität dieser anderen Akteure gesagt sein soll. Volle ist einfach Sachs mit seiner großartigen Persönlichkeit, die er auch dem Wotan verleiht – momentan fraglos der beste Vertreter dieser beiden, und nicht nur dieser Rollen, wenn man an seinen Barak denkt. Ein Künstler im Zenit seiner Kunst. Und dazu kommt sein Bassbariton mit Tendenz zum Heldenbariton, der aber auch die Tiefen gut meistert und den er technisch perfekt und stets ausdrucksstark führt und somit die Handlung auch stimmlich intensiviert. Eine perfekte, Handlung und Aussage unterstützende Mimik tut ihr Übriges. Ein Höhepunkt in diesem menschlichen Kontext des Sachs in der Interpretation von Michael Volle ist neben seinem in tiefste gedankliche Tiefen gehenden und mit feinstem Legato garnierten Wahn-Monolog sein Ausbruch in der Schusterstube mit Hat man mit dem Schuhwerk nicht seine Not! Wär ich nicht noch Poet dazu, ich machte länger keine Schuh!…“ Das ging wahrlich unter die Haut und wirkte unglaublich authentisch – so als hätte der Künstler tatsächlich diese Probleme.

Und in diesem Moment, mit ihrer Replik „O Sachs! Mein Freund! Du teurer Mann! Wie ich dir Edlem lohnen kann! Was ohne deine Liebe, was wär ich ohne dich, ob je auch Kind ich bliebe, erwecktest du mich nicht?…“, wächst nun auch die junge Hanna-Elisabeth Müller über sich hinaus, deren Stimme bisher vielleicht ein wenig zu leicht für die Rolle der Eva erschien. Hier beweist sie, und darstellerisch ohnehin schon den ganzen Abend, dass sie die Richtige für diese so anspruchsvolle Rolle im Spannungsfeld zwischen Sachs und Walther ist. Ihr Partner, David Butt Philip, der schon als Boris im Sommer in der Salzburger „Katja Kabanova“ auffiel, verkörpert den Walther mit einem klangvollen und stets höhensicheren Tenor in der Tat als Schöpfer einer neuen Entwicklung im Liedgesang, das kreative Genie, zu dem Sachs, und das ist an Volles Spiel zu erkennen, nicht in der Lage war, dass er aber erkennt und deshalb fördert. Beckmesser hingegen, und das zeigt Wolfgang Koch mit einer ebenso bestechenden wie Mitleid erregenden Charakterstudie des Stadtschreibers, ist das Scheitern an sich selbst, an seinem Mangel an eigener Kreativität, ohne es wegen seines übersteigerten Egos zu merken, was freilich von Sachs auch ausgenutzt wird, um ihm einen noch tieferen Fall zu bescheren. Koch wirkt mit seinem Bassbariton, der bekanntlich schon den Wotan in Bayreuth gesungen hat, bisweilen stimmlich bereits etwas zu schwer für die Partie, meistert die ebenso undankbare wie facettenreiche Rolle aber mit hoher darstellerischer und vokaler Integration.

Barry Millington stellt eine interessante These auf, der man tatsächlich einiges abgewinnen kann. „In gewisser Weise sind Sachs, Beckmesser und Walther drei Facetten einer einzigen Person. Zunächst sind sie alle Außenseiter und zeichnen sich auch durch das für Außenseiter so typische gestörte psychische Gleichgewicht aus.“ Sachs sei mit Schuld an den Tumulten und begreife erst im Laufe der Oper, mit dem Erlernen der Resignation, in der Psychologie als Akzeptanz bezeichnet, zu leben. Beckmesser finde in dieser Inszenierung wie jeder Mensch, der Ablehnung erfährt, seinen eigenen Prügelknaben. Warner lässt ihn nach seiner Niederlage auf den Treppen des Gesangspodests traurig niederkauern, dass sogar Sachs eine helfende Hand reicht. Schließlich geht er unbeachtet mit der Menge ab. Walther, der zu Beginn noch ungeduldig und arrogant wirke, reife am Ende zu einem ruhigeren, weiseren Mann. Diese Rollenauffassung wurde von Keith Warner mit seiner ohnehin immer exzellenten Personenregie klar erkennbar umgesetzt und wirkte am Ende auch völlig schlüssig.

(c) Pöhn

Georg Zeppenfeld mit seinem profunden und klar artikulierenden Bass sowie intelligenten Spiel nahm als Pogner in diesem Kontext eher eine marginale Rolle ein, ebenso wie Christina Bock mit einem guten Mezzo als Magdalene. Michael Laurenz konnte sich hingegen mit einer etwas protagonistischeren Rollengestaltung als David präsentieren und machte das mit seinem kräftigen Tenor und großem Schauspieltalent ausgezeichnet. Martin Häßler blieb als Fritz Kothner stimmlich etwas blass. Jörg Schneider (Kunz Vogelgesang), Stefan Astakhov (Konrad Nachtigall), Lukas Schmidt aus dem Opernstudio (Balthasar Zorn), Ted Black aus dem Opernstudio (Ulrich Eißlinger), Robert Bartneck (Augustin Moser), Nikita Ivasechko aus dem Opernstudio (Hermann Ortel), Dan Paul Dumitrescu (Hans Schwarz) und Evgeny Solodovnikov (Hans Foltz) waren an diesem Abend die „kleinen“ Meister.

Das Bühnenbild von Boris Kudlička passte mit dem Licht von John Bishop perfekt zu diesem Regiekonzept. Es setzt zunächst auf einen großen, halbrunden Raum in dunkelblau, der aus mehreren Segmenten besteht und im ersten Aufzug noch die bestehende Ordnung der Meistersinger-Welt insinuiert, in die Elemente der Singschule, wie Pulte und stilisierte Notenblätter sowie einige Möbel zum Auftritt der Meister, eingebracht werden. Schon das erste Bild zum Ende des Vorspiels zeigt aber Sachs allein in dem großen Raum und setzt damit den Akzent des Regiekonzepts, welches sich um diese Figur dreht. Später, wenn diese Welt in Unordnung gerät, löst sich die Harmonie der Raumsegmente auch, sie kehren sich um, offenbaren nun Leitern und eine etwas in Unordnung geratene Ästhetik, allein schon durch die quirligen Malereien auf den Rückwänden. Natürlich erscheint dann auch einmal der Begriff „Wahn“ in großen Lettern. Die Schusterstube löst sich in ihre Bestandteile auf, das Bühnenbild suggeriert Änderungen auf allen Ebenen.

Zu Beginn des 2. Aufzugs ist sogar ein Ballett (Europaballett St. Pölten) in einem zylinderförmigen Lichtraum zu sehen, so als wolle es die kommende Dynamik der Entwicklung tänzerisch andeuten. Spektakulär wird es in der Prügelszene, mit einem großen Aufbau für den Chor und – schließlich wieder im ganz Kleinen und Persönlichen – einer Wendung des Nachtwächters (gut: Peter Keller) als Sensenmann gegen den wieder einmal allein verbliebenen Sachs. Ein starker Regieeinfall nach dem heftigen Treiben zuvor!

Auch die Festwiese prunkt mit einem raumgreifenden und farbenfreudigen Aufbau für den Chor, den Extrachor und die Chorakademie der Wiener Staatsoper, die von Thomas Lang bestens einstudiert wurden. „Wacht auf,…“ war eine Wucht. Karl Alfred Schreiner war für die gute Chorographie zuständig. Akhila Krishnan steuerte einige nicht allzu sehr ins optische Gewicht fallende Videos bei. Es geht dem Regisseur aber auch um Zeitlosigkeit der Handlung und damit um ihre universale Relevanz. So ist auch einmal ein klassizistischer Torbogen zu sehen, und die geschmacklich stets treffsicheren Kostüme von Kaspar Glarner zeigen Designs aus dem 16. Jahrhundert, also der Zeit des Stücks bis zum Heute, dies aber mit deutlicher Betonung.

Ganz großartig dann das Finale! Nach der immer wieder als umstritten gesehenen Schluss-Ansprache des Sachs mit ihrem vermeintlich nationalistischen Bias erscheint der ganze Chor mit Büchern zur Kunst aus allen Gattungen, also den bildenden Künsten mit v.a. der Malerei, Bildhauerei, Baukunst, Zeichnung, Grafik, Kunsthandwerk einerseits und den darstellenden Künsten mit v.a. Theater inkl. Musiktheater, Tanz, Gesang, Medienkunst und Konzeptkunst andererseits, und dazu noch aus vielen Gegenden der Welt, und überreicht diese langsam Sachs im Vordergrund. Keith Warner hebt mit diesem faszinierenden und auch ergreifenden Moment die Schluss-Ansprache über jeden Verdacht nationaler oder gar nationalistischer Einengung auf die viel höhere Ebene der Kunst als universaler menschlicher kultureller Errungenschaft hinaus. Aber wie Barry Millington dennoch so zutreffend schreibt: „Wahn ist heute noch allgegenwärtig und wird es immer sein – er stachelt uns dazu an, unsere Mitmenschen förmlich zu zerfleischen … Das ist vielleicht die größte Erkenntnis – und die größte Herausforderung – der „Meistersinger“.

Nicht zuletzt dieser Regieeinfall dürfte das Produkt der Art und Weise sein, wie Keith Warner Regie führt. Dazu hat seine langjährige Regiemitarbeiterin und Assistentin sowie freiberufliche Regisseurin und seit 2019/2020 Spielleiterin an der Oper Frankfurt, Katharina Kastening, im Programmheft einen interessanten Aufsatz mit dem Titel „Keith Warner als Regisseur“ verfasst. Interessant ist gleich zu Beginn zu lesen, dass Warner „alle Wagner-Opern“ zweimal inszeniert hat, wobei anzunehmen ist, dass sie sich auf den Bayreuther Kanon bezieht, die „Meistersinger von Nürnberg“ aber noch nie. Kastening schreibt da, dass man „von seinen Produktionen jedenfalls hervorragendes komödiantisches Timing, geschichtliche Genauigkeit und kluge Kommentare zu historischen Ereignissen und Denkweisen erwarten“ kann. Und „er weist immer wieder darauf hin, dass trotz der Länge der Werke nichts davon überflüssig ist – jeden Satz, jedes Motiv und jede rhythmische Komposition muss es geben, damit die Themen und der politische Inhalt dieser Stücke skizziert werden können, sodass letztlich das Publikum dazu gebracht wird, seine Wirklichkeiten zu hinterfragen!“ Neben manch anderem ist darin auch dieser politisch zu begründende Schluss der Wiener „Meistersinger“ enthalten.

Aber Kastening offenbart noch eine andere ganz Qualität Keith Warners als Regisseur. Er setzt sich so früh wie möglich, manchmal Jahre zuvor, mit den Dirigenten der Neuinszenierungen ins Benehmen. So sieht sie seine „wahre Handschrift“ im „tiefen Verständnis und einer akribischen Verflechtung von Musik und szenischer Auflösung.“ Im Dialog mit den Dirigenten wird über Interpretationen gesprochen, werden Ideen ausgetauscht, das Konzept diskutiert und schließlich eine gemeinsame Vision geschaffen. „Für Keith Warner sind ‘Musik und Text‘ gleichberechtigte Partner.“ Wann ist das im heutigen Wagner-Theater, insbesondere im mittlerweile schon nahezu als „klassisch“ zu bezeichnenden Regietheater zu erleben? Wie oft, auch in Bayreuth, gibt es diese intensive Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Dirigent, und dazu noch von so früh an, nicht?! Man denke nur an den Schlussapplaus der Castorf-„Ring“-Premiere in Bayreuth 2013 und einige andere große Premieren, auch in Salzburg – Regisseur für sich, Dirigent für sich…

Dann hebt Kastening Warners Qualitäten seiner detailreichen „Chorregie“ hervor. Eingehend auf jede einzelne Chorstimme arbeitet er mit den Choristen konkrete Reaktionen innerhalb jeder Chorgruppe heraus, was dem Chor im Stück eine „unglaubliche Tiefe“ verleiht. Auch das war an diesem Abend zu bemerken. Die Autorin nimmt im letzten Teil des Aufsatzes noch interessant Stellung zur Warners individueller Arbeit mit den Darstellern, was die Basis für seine intelligente „Personenregie“ sei und häufig Diskussionen über Politik, Geschichte und Soziologie im Probenraum zur Folge hat. Allerdings gendert Kastening die letzte Seite ihres Aufsatzes mit der vom Deutschen Rechtschreibrat noch im März 2021 offiziell abgelehnten, da nicht norm-gerechten Formulierung „:innen“ so stark durch, dass der Lesefluss erheblich stockt und das Lesen kaum noch Freude macht. Es ist aber auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Problematik eines konsequenten Genderns über einen kleinen Text hinweg und erklärt einmal mehr, warum über zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung das Gendern ablehnen.

Im Übrigen liest sich der ganze Aufsatz von Kastening wie eine Gebrauchsanweisung gegen das Wagnersche Regietheater. Denn was sie Warner hier zuschreibt und auch der Realität entspricht, wie man aus vielen seiner Wagner-Inszenierungen ablesen kann, ist seine Überzeugung von der Notwendigkeit, dass „Text und Musik gleichberechtigte Partner“ sind. Und damit kann das Wagnersche Regietheater, wie man es zuletzt in Aix en Provence, zu Ostern in Salzburg, in Wien, Bayreuth und Berlin an beiden dortigen Häusern et al. erlebte, nachweislich herzlich wenig anfangen. Und große Teile des Opernpublikums, des alten wie des jungen, auch nicht.

(c) Pöhn

Das wiederum führt bezüglich der Wiener Neuinszenierung der „Meistersinger“ nun zu Philippe Jordan und dem Orchester der Wiener Staatsoper an diesem Abend. Was da an musikalischer Intensität, Kompaktheit und innerer Spannung zu hören war, zunächst in der Premiere, aber mehr noch in der ersten, hier besprochenen und vielleicht von weniger Spannung begleiteten Reprise, war höchst eindrucksvoll, zeitweise mitreißend und zur szenischen Lösung im hohem Maße komplementär – eben genauso, wie es Warner immer vorschwebt. Schon das Vorspiel dirigierte Jordan mit flüssigen Tempi und expressivem Duktus wie aus einem Guss. Im weiteren Verlauf beeindruckte sein intensives Eingehen auf die Sänger und den Chor, aber auch seine Hinwendung zu Dramatik und gesteigerter Dynamik, wenn einmal nicht gesungen wurde. So war endlich einmal wieder eine Wagner-Aufführung zu erleben, in der Musik und Szene, und dazu noch mit einigen der weltbesten Sängerdarsteller, eine Einheit bildeten, die niemanden, der das Werk kennt, unberührt lassen konnte.

Entsprechend war der Applaus für alle, in der Premiere mit vielen – sicher auch doppeldeutig gemeinten – Blumenwürfen für Philippe Jordan, der das Haus ja bald verlassen wird, aber auch mit Riesenapplaus für Keith Warner. Sobald er auf der Bühne war, dokumentierte dieser seine große Sympathie für das gesamte Team, eben auch für den Musikdirektor. Wien und seine lang schon darbenden Freunde des Wagnerschen Oeuvres können sich wieder über eine gute Produktion freuen, die keineswegs in der Ästhetik eines August Everding oder Otto Schenk steht, sich aber mit überzeugenden konzeptionellen und szenischen Lösungen sowie guter und werkrelevanter Personenregie und Textverarbeitung weit entfernt von den Desavancen des Wagnerschen Regietheaters verortet.

Klaus Billand, 31. Dezember 2022


„Die Meistersinger von Nürnberg“ Richard Wagner

Wiener Staatsoper

Premiere am 4. Dezember 2022 / besuchte Vorstellung am 8. Dezember 2022

Inszenierung: Keith Warner

Musikalische Leitung: Philippe Jordan

Wiener Philharmoniker